Donnerstag, Juni 15, 2006

6. Spieltag

14.06.2006, Mittwoch

Während in der Tagespresse immer noch verwundert über den neuen deutschen Nationalstolz diskutiert wird, steigt die Fieberkurve im Land. Im ersten Spiel des heutigen Tages besiegt Spanien wie erwartet, aber überraschend hoch die Ukraine 4:0. Als ich das Büro verlasse, werde ich auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle fast von einem völlig außer Kontrolle geratenen Spanier überfahren. Zu Hause dann ein schneller Kleidungswechsel in das Mannschaftstrikot, schließlich sollen meine beiden Mitschülerinnen und der Lehrer mal sehen, welche Opfer ich dem Erlernen der chinesischen Sprache bringe. Nebenbei läuft die Begegnung Tunesien gegen Saudi- Arabien, die aber eher langweilig ist. Zur Halbzeit führt Tunesien mit 1:0, spielt in der zweiten Halbzeit noch schlechter und rettet schließlich 2:2.

Da wir alle in der vergangenen Woche so gut wie nichts für Chinesisch getan haben, sind wir aller drei gleich schlecht. Der Unterricht beginnt mit einer auf chinesisch geführten Diskussion über die Chancen des deutschen Teams, unser Lehrer denkt sich geschmeidig etliche Beispielsätze zum aktuellen Thema aus, die er uns dann übersetzen und in diversen grammatikalischen Variationen wiederholen lässt. Mein Blick wandert unentwegt zur Uhr, selten kam mir eine Stunde derartig lange vor.

Die Bahn kommt um 21:04, auf dem Weg in die Stadt höre ich ständig kollektives Aufstöhnen, was mich vermuten lässt, dass wir wohl ständig Torchancen vergeben. Die Temperatur in Mainz ist immer noch subtropisch und ich schwitze in meinem Trikot wie ein Schwein. Wie halten unsere Jungs das bloß aus? Immerhin kann ich mir zu Hause die letzten paar Minuten der ersten Halbzeit anschauen und bin entsetzt: Die Defensive scheint ja ganz in Ordnung, aber was macht der Sturm? Sind das dieselben Jungs, die bei dem Eröffnungsspiel so schön offensiv gespielt haben? Schnelle Dusche in der Pause und dann ab an den Rhein in den Medina- Strandclub, wo Ali und ein paar Freunde das Spiel schauen. Nervenzerfetzende Augenblicke, als immer mehr Torchancen aus Standartsituationen nicht geklärt werden. Und der polnische Tormann hält alles. Klinsmann wechselt Odonkor für Friederich ein, endlich kommt Bewegung in den Sturm. Alle schauen auf die Uhr und man spekuliert über Tabellenplätze bei einem Unentschieden in der Gruppe und mögliche Achtelfinalgegner. Die Polen spielen nach Gelb- Rot in Unterzahl. Neuville kommt für Podolski. Nach einem Lattenknaller wird in Zeitlupe gezeigt, wie unsere Kanzlerin auf der VIP- Tribüne ausflippt. Ständiger Blick zur Uhr, die offizielle Spielzeit ist vorbei, vier Minuten Nachspielzeit. In der 91. Minute schießt Neuville endlich das erlösende Tor und der Biergarten und ganz Deutschland stehen Kopf.

Auch eine Stunde nach Spielende ist die Rheinallee dicht, sind wir denn schon Weltmeister? Die Leute singen „Finale, OoooHHhhooohhh!“ und „Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!“, aus den Radios dudeln fröhlich sämtliche von deutschen Interpreten für diese WM eingespielte Lieder. Ich versuche, diese nette Stimmung fotographisch festzuhalten und natürlich versagt der Blitz. Spontan wird auf der Straße Fußball gespielt..

Da morgen Feiertag ist, steht einer ausgelassnen Party nichts mehr in Weg, und selbst jetzt um 3:00 Uhr höre ich die Leute „Finale, oohooh. Finale, oohOOOhooh“ singen.

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