Gerade kehre ich von dem opulentem Mahl zurück, dass Meister Wu anlässlich meines Geburtstags für mich zubereitet hat. Es ist hier 3.00 Nachts, bin zu müde, um zu schreiben, ausführlicher Bericht folgt, wenn ich wieder in Deutschland bin. Danke an alle, die an mich gedacht haben.
Ein Blick aus dem Fenster zeigt Regen. Klasse. Eigentlich hatte ich ja gehofft, meinen Geburtstag mit einer kleinen Übungseinheit beginnen zu können, aber das soll dann halt nicht sein. Also sinke ich zurück in die Kissen, schlafe noch eine Stunde und klingele dann mal vorsichtig bei Alessandra durch, um nach ihren Plänen für den heutigen Vormittag zu fragen. Da dies mein letzter Tag hier ist, ist sie ganz ambivalent, ich schlage vor, die Galerien in der Moganshan Lu zu besuchen, damit ist sie auch einverstanden. Meister Wu ruft an und bellt die Order für heute Abend in den Hörer, ich verstehe nur, dass ich irgendwie um 17.00 im Hotel abgeholt werde. Prima. Alessandra und ich treffen uns in der Lobby und organisieren uns ein Taxi. Sie findet auf dem Rücksitz ein Mobilphon, das offensichtlich der letzte Gast dort vergessen hatte und reicht es wortreich dem Fahrer. Ich muss innerlich lachen: Wenn Alessandra eine andere Sprache als englisch spricht, brauche ich immer einige Sekunden, um zu merken, ob das jetzt Chinesisch oder Italienisch ist. Aber offensichtlich wird sie verstanden. Wir sind keine drei Minuten unterwegs, als die Besitzerin des Phons völlig panisch anruft. Der Taxifahrer erklärt ihr geduldig, dass er noch zwei ausländische Fahrgäste (er benutzt den leicht unschmeichelhaften Begriff „laowei“) abzuliefern habe, dann würde er sofort das Phon vorbeibringen. Von da an erkundigt sich die Besitzerin im Abstand von ca. fünf Minuten nach dem Stand der Dinge und wird jedes Mal geduldig vertröstet. Irgendwann erklärt er uns, die Schnalle sei auch eine Laowei, Koreanerin. Aha.
M50 ist richtig klasse, hunderte von Galerien. Habe zwar von moderner Kunst keine Ahnung, aber einiges ist sehr spannend. Mich interessiert vor allem der städtebauliche und architektonische Ansatz der Revitalisierung dieses Geländes, schließlich hat mich das neulich gekaufte Buch neugierig gemacht. Ich finde es faszinierend, hier das Erwachen einer individuellen Szene zu spüren, alles noch etwas provisorisch und im Probierstadium, aber voller Leben. Durch das Fenster eines Designbüros beobachte ich junge Leute, die an ihren Rechnern konzentriert arbeiten, an den Wänden hängen Skizzen diverser Projekte und ich bin etwas neidisch und fühle mich alt. Wie cool muss das sein, als arroganter junger Hochschulabsolvent in dieser Atmosphäre zu arbeiten. In einer Galerie schenke ich mir zum Geburtstag ein Photo, hübsch mit Passepartout und handsigniert, es zeigt die typischen Wäschetrocknungsmethoden dieser Stadt.
Alessandra und ich trennen uns an der Shanghai Railway Station, sie fährt zu ihrem Akupunkturtermin und ich nach Hause.
Kerstin gibt sich die Ehre, standesgemäß im Pyjama und schenkt mir ein wunderschönes weißes T- Shirt mit einer schwarzen stilisierten Päonienblüte auf dem Rücken, das sie liebevoll verpackt hat. Ich bin sehr gerührt. Xiao Lu ruft an und erzählt mir was von Treffen am Haupteingang des Parks um 17.00. Aha, Planänderung, denke ich. Da für ein Schläfchen keine Zeit mehr ist, beginne ich schon mal, meine Koffer zu packen.
Nachmittags/ Abends:
Bedachte Wahl der Garderobe, zu dick auftragen will ich ja nicht, soll ja ein lässiger Abend werden. Aber ein wenig Farbe klatsche ich mir dann doch schon ins Gesicht und lege Ohrringe an. Schnell noch die Stange Kippen als Gastgeschenk in die Tasche gestopft, dann zum Bus gerannt. Während ich im Bus sitze, ruft Meister Wu an und will mir irgendetwas wegen der Abholung mitteilen. Aha, anscheinend ist irgendwas schief gegangen. Chinesisch telefonieren, vor allem mit Wu Laoshi ist eine Qual, weil er immer wahnsinnig schnell redet und mich meistens dann erwischt, wenn ich irgendwo (wie z.B. öffentlichen Verkehrsmitteln) bin ,wo die Geräuschkulisse sowieso maximal ist und ich schon rein akustisch nicht verstehe. Ich brülle also in das Phon, ich sei unterwegs zum Park, weil Xiao Lu mich da hinbeordert habe, käme in ca. 10 Minuten an und alles würde gut. Punkt 17.00 am Haupteingang, keine Sau da. Warte zehn Minuten, langsam kommen mir Zweifel: Hat der vielleicht doch die U- Bahn Station gemeint? Renne da hin, kein Xiao Lu, also wieder zurück zum Park, immerhin war das mein letzter dem Meister bekannter Aufenthaltsort. Und da sitzt dann auch Xiao Lu auf dem Elektroroller mit einem monströsen Blumenstrauß, sehr geschmackvoll, rosa Lilien und Rosen. Der wird mir in den Arm gelegt, aufsitzen, ab geht es. Als Xiao Lu vor einer Konditorei hält, ahne ich schlimmes. Tatsächlich wird eine farbenfrohe Torte in eine Styroporschachtel verpackt, die darf ich dann auch noch halten. Scherzhaft sage ich zu Xiao Lu, er sei der Traumprinz (baimawangzi, wörtlich: „Ritter auf dem weißen Pferd“), er lacht und sagt, heute Abend sei ich die Prinzessin. Ach, Shanghaier Männer, letzte Bastion der Ritterlichkeit!
Meister Wu erwartet uns schon ungeduldig, was die Schäbigkeit seiner Behausung angeht, hat er nicht untertrieben. Alle Glühbirnen im Treppenhaus sind kaputt. Er und sein Sohn hausen auf ca. 15 m2, schlafen in einem Bett, es gibt eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsbad. Wer aus Studententagen ähnliche Verhältnisse kennt: Kein Vergleich. Im Bad gibt es eine schäbige Toilette und einen Spülstein, kein warmes Wasser, keine Dusche, nackter Betonboden, ebenso die Küche. Das Haus wurde in den 40er Jahren errichtet, schnell hingekloppt. Nebenan werden neue Häuser gebaut, Anfang des nächsten Jahres werden sie da eine Wohnung bekommen, die dann immerhin zwei Zimmer haben wird.
Freunde, wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht.
Auf dem Tisch stehen Speisen, die mir das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Herr Si ist auch geladen, was mich sehr erfreut. Auch wenn ich ihn nicht verstehe, ist mir dieser stets fröhliche, liebenswerte Mann sehr ans Herz gewachsen, ich bewundere seine Lässigkeit. Und wir sind ja so was wie Klassenkameraden. Meister Wus Sohn spricht ein wenig englisch und bemüht sich um Konversation. Ach Gott, vor ein paar Jahren haben Stefanie, Adam und ich ihm im Übermut den westlichen Namen „Wesley“ verpasst, als alte Trekkies fanden wir, dass sich Wesley Wu irgendwie cool anhört und Adam sagte, Wesley Crusher sei schon immer sein Idol als gehemmter Nerd gewesen. Rose ist auch geladen, Xiao Lu wird losgeschickt, um sie von der U- Bahn Station abzuholen. (Natürlich werden alle fünf Minuten Telefonate über den Stand der Dinge geführt.) Und noch ein weiterer Schüler des Meisters trifft ein, voll die Stimmungsbombe. Leider wird er mir nicht namentlich vorgestellt, aber letztes Jahr haben wir uns kurz gesehen, er holte nach unserem Abschiedsessen die Jungs ab. Wir kriegen raus, dass er am 1. November Geburtstag hat. Zur Überbrückung der Wartezeit wird Tee zeremoniell zubereitet, und zwar nach allen Regeln der Kunst. Rose trifft ein und dann wird geschmaust. Fast alle Gerichte sind vegetarisch und schmecken unglaublich gut, Shanghaier Hausmannskost, ich kann gar nicht aufhören, zu essen. Eine der kalten Speisen besteht aus dicken eingelegten Bohnen, weder Rose noch ich haben dies je zuvor gegessen. Meister Wu erklärt, in seiner Kindheit sei dieses Gericht auf der Straße als Snack verkauft worden, heute müsse man danach suchen. Köstlich! Der Abend ist sehr locker, die Glotze läuft, Nachbarn schauen vorbei. Stefanie und Ali rufen an, um mir zu gratulieren und den Rest der Runde zu grüßen, alle freuen sich und brüllen fröhlich Grüße zurück. Die Herren räumen auf, während Rose und ich entspannt plaudern. (Ich kann nur wiederholen: Mädels, Shanghaier Männer sind die besten. Bin auch gerne beim Aufsetzten eines Textes für den Kontakthof im Volkspark behilflich). Der Kuchen wird aufgetischt, die Kerzen entzündet, die ich dann unter Blitzlichtgewitter auspuste. Typisch chinesisch wurde ich ein Jahr älter gemacht, denn hier wird das Alter ab der Zeugung gerechnet. Meister Wu zaubert eine Kaffeemaschine hervor, der Kaffee wird aus Teeschalen genossen. Diese werden anschließend sauber abgespült, dann wird zwei Stunden lang Tee getrunken. Für alle die, die so was noch nicht oder nur im Rahmen einer kommerziellen Veranstaltung erlebt haben: Weinprobe ist nichts dagegen, dies hier ist ein Ritual. Ich lerne mehr über Tee als ich jemals in meinem Leben über Wein wissen werde, wir haben Spaß und ich fühle mich in des Meisters schäbiger Bude unendlich wohl.
Um 02:30 werden Rose und ich in den klapperigen Bus des Teeknülches eingetütet, der uns natürlich noch eine Dose hochwertigen grünen Tees schenkt. Großer Abschied auf der Straße, im Zimmer des Gästehauses befinde ich mich in absoluter Agonie: Wie soll ich die Blumen aufbewahren? Völlig verzweifelt befülle ich schließlich eine Plastiktüte mit Wasser und schlafe lilienbeduftet ein.