Samstag, September 26, 2009

Chinesische Verhältnisse

26.09.2009, Samstag

Vormittags:

Kaum geschlafen, aber egal. Bin schon um wieder früh im Park, damit ich mich mit Xiao Lu aufwärmen kann. Um ihm meine Versöhnungsbereitschaft zu demonstrieren, habe ich extra die blauen Hosen angelegt und das Gesamtbild mit einem Catwoman- Shirt abgerundet. Sein Geschenk habe ich natürlich auch dabei. (Erwartungsgemäß kommt Catwoman auch granatenstark an).
Um 9:00 trifft der Meister und zu meiner großen Freude auch Herr Si ein, der gute Mann! Ist ganz schön grau geworden seit letztem Jahr, aber immer noch gut drauf. Außerdem kommt noch ein etwas pummeliger junger Mann, der mir als Xiao Xu vorgestellt wird. Heute ist der zum vierten Mal dabei, Meister Wu hatte ihn schon angekündigt. Xiao Xu schüttelt mir freudig die Hand und sagt: „Pleased to meet you", sehr nett. Das heißt also Anfängerprogramm, wofür ich eigentlich sehr dankbar bin, denn so kann ich von der Pike auf lernen. Und gegen Xiao Xu sehe ich natürlich nicht schlecht aus. Xiao Lu übt im Hintergrund seinen Kram beziehungsweise korrigiert einen anderen Knülch, der mittlerweile auch dazugestoßen ist. Aber mir unter die Nase zu reiben, wie Scheiße mein Chinesisch sei, kann er sich dann doch nicht verkneifen. Unverschämtheit! Aber er hat ja leider nicht unrecht.
Mein Buch füllt sich mit Begriffen zu Einzelbewegungen und Trainingsanleitungen, auch der neue Schüler schreibt eifrig mit und hilft dem Meister bei der Pinyin- Umschrift. Ich bin begeistert, so wollte ich schon immer lernen! Dieses Notizbuch wird ein Füllhorn des Tongbei- Wissens.
Für die Päuschen hat Xiao Xu schon Kippen für den Meister bereit gelegt, ich kriege natürlich auch eine. Wie aufmerksam! Irgendwann kommt auch mal ein süßes aufgestyltes Girlie vorbei (bei den Girlies hier sind Hotpants im Moment der letzte Schrei) und schaut zu, geht dann aber wieder weg. Xiao Xu erzählt mir freudestrahlend, das sei seine Freundin und ich sage, die sei aber sehr hübsch. Für dieses Kompliment bedankt er sich freudestrahlend. Nebenan dehnt sich ein Knabe, auf dessen Hemd auf dem Rücken der deutsche Adler prangt und auf dem vorne „Deutschland" geschrieben steht, ich bin entzückt. Das Girlie kommt mit einer Tüte voller Wasserflaschen für die ganze Truppe wieder und verteilt diese. Das ist ja unglaublich. Hier hat man wenigstens noch RESPEKT vor älteren Leuten und Höflichkeit und Anstand im Leib! Davon könnten sich die vorlauten Blagen bei uns mal ne Scheibe abschneiden.
Mittlerweile sind wir zu den Schrittfolgen übergegangen, da fange ich leider wieder an, zu schwächeln. Xiao Lu schießt aus dem Hintergrund auf mich zu und befiehlt mir, mich hinzusetzten, das fällt aber zum Glück nicht weiter auf, da der Meister damit beschäftigt ist, alle 24 Schrittfolgen des Tongbei- Systems in mein Buch zu schreiben und dabei von Xiao Xu und dem Girlie tatkräftig unterstützt wird. Der andere Knülch darf zwischenzeitlich immer mal als Negativbeispiel (nicht locker genug) und Prügelknabe herhalten. Und schon trifft die nächste Gruppe junger Leute ein, zwei Mädels und zwei Typen, die aber gleich auf Xiao Lu losstürmen. Eines der Mädels ist ziemlich groß und sieht ihm ähnlich, wahrscheinlich seine Tochter. Bei dieser Gruppe ist Push- Hands angesagt, erst mal darf einer der Typen ran, während der andere angeberisch sein kurzbehostes Bein auf einen Stein stellt, damit man auch ja seine fette Tätowierung an der Wade gut sieht. Der Typ zieht natürlich den kürzeren, danach ist die Tochter dran und macht echt ne gute Figur. Klar, bei dem Vater...
Und dann muss Xiao Lu alle 24 Schrittfolgen vorturnen, damit wir mal einen Eindruck davon bekommen. Dann fangen wir mit den ersten Bewegungen der Form an, Xiao Xu guckt zu und wir turnen unter den kritischen Blicken des Meisters vor. Ich werde gelobt, dann korrigiert der Meister noch mein Dong Bao Chuan, mit Xiao Xu übe ich die Anfangsbewegungen, kann ja nicht schaden.
Xiao Xu und das Girlie ziehen ab, Xiao Xu winkt mir zu und ruft „Bettina, see you". Na so was, hat der sich doch tatsächlich meinen Namen gemerkt! Was für ein aufmerksamer junger Mann.
Beim Umziehen patscht Xiao Lu auf seinen Bauch und meint, er sei fett geworden, was ich boshaft bejahe und frage, ob er in letzter Zeit zu viel gegessen habe. Nein, das käme vom Üben sagt er und macht es mir vor. Dann darf ich noch seine tollen Unterarmmuskeln anpacken und mir anhören, ich sollte mal zusehen, dass das bei mir bald auch so aussähe. Herr Si brüllt aus dem Hintergrund, ich wäre sowieso zu dünn, was von dem Meister mit meiner fleischlosen Diät erklärt wird. Das befinden alle anwesenden Herren für „Bu hao" (Nicht gut). Tja Freunde, das habe ich mir leider nicht so ausgesucht. Dafür spanne ich mal meinen Bizeps, was dann doch Anerkennung auslöst.

Nachmittags:

Ich öffne die dubiose Suppe, es liegt ein Beutel mit einer scharf riechenden Paste bei. Nachdem ich das Zeug aufgebrüht habe, dreht sich mir fast der Magen rum und der Becherinhalt landet unverkostet in der Kloschüssel. Wenigstens habe ich ein Gefäß für meine vegetarischen Nudeln, die dann auch köstlich schmecken. Mein völlig verschwitzter Fummel wird gewaschen, war auch echt nötig. Außerdem hat mir im Park einer der Rotkot- Vögel einen sauberen Blattschuss verpasst, das muss sofort ausgewaschen werden. Statt zu schlafen, versuche ich das Gekrakel des Meisters zu entziffern und sauber abzutippen. Mein Lieblingswörterbuch lädt hier leider nicht, also müssen große Teile der Transkribierung bis zu meiner Rückkehr warten. Bin mit Xiao Lu um 15:00 im Park verabredet, der verpennt aber und lässt mich 20 Minuten schmoren.
Dafür lerne ich jetzt aber eine neue Form (Mian Zhang, Baumwoll- Hand). Das macht viel Spaß, wenn es auch anstrengend ist. Aber Klasse für Hintern und Beine. Ich bin nicht wirklich zufrieden mit mir, aber Xiao Lu wird mir das hoffentlich schon beibiegen.
Das von mir mitgebrachte Kranich- Shirt ist ihm leider trotz Hüftgold zu groß. Mist. Hoffentlich haben wir noch eines in einer kleineren Größe und eines der Mädels kann das mitbringen.
Natürlich bin ich auch neugierig, was seine familiären Verhältnisse angeht und frage mal, was denn das Fräulein Tochter so macht, die ist ja schon 20 Jahre? Und ob sie denn jetzt einen Freund habe, das dürfe sie nach chinesischer Tradition ja mittlerweile wohl? Ob sie denn arbeite? (Dazu muss man sagen, dass Xiao Lu absolut vernarrt in seine Tochter ist).
Nein, einen Freund hat sie nicht, noch zu jung und unreif seiner Meinung nach. Ein potentieller Kandidat hat von ihm beim spielerischen Gerangel ordentlich was abgekriegt und daraufhin seine Ambitionen aufgegeben. Ich kriege mal wieder zu hören, dass chinesische und westliche Jugendliche völlig verschieden seien. Ach ja? Und was ist mit Xiao Xu? Der ist doch auch erst 19 und hat eine Freundin. Naja, also nicht völlig verschieden. Ich sage scherzhaft, vielleicht sei Xiao Lu ja eifersüchtig? Vielleicht habe die Tochter einen Freund, von dem er nichts wisse? Ausgeschlossen, sagt er. Jaja, mein Lieber, träume weiter, Eltern werden in dieser Hinsicht auf der ganzen Welt von ihren Kindern betrogen. Arbeiten tut die feine junge Dame nicht. Seit ihrem Schulabschluss vor zwei Jahren sitzt sie zu Hause und hängt den ganzen Tag vor dem Computer oder geht aus. Ich weiß, dass es im Hause Lu zwei Rechner gibt, also keine Entschuldigung, nicht mit mir zu chatten oder wenigstens meine mails zu beantworten. Ja, einer ist kaputt (aber den wird er reparieren lassen), den anderen benutzt die Tochter und hat ihn mit Passwort gesperrt. Unfassbar. Ich wäre von meinen Eltern zügig durch Taschengeld- und Internetentzug hinreichend zur Arbeitssuche motiviert worden und würde meinen Kindern solche Flausen ebenso austreiben. Sieht man mal, was die Einkind- Politik hier ausrichtet. Letztes Jahr wollte sie wohl nach Japan zum studieren, aber damit war Xiao Lu nicht einverstanden, weil Japaner Scheiße sind. Dann lieber Deutschland, aber das wollte das Gör nicht.
Den Namen der Tochter kriege ich auch noch raus, man weiß ja nie, wozu das noch gut sein wird.

Nach dem Training zerre ich mein verschwitztes Zeug aus der Tasche und wiederhole das Erlernte, soll ja nicht flöten gehen. Dann hole ich mir –diesmal am richtigen Stand- den geliebten Fladen. Schade, der Luxusfladen wird nicht mehr produziert, überhaupt scheint mir in der Fressgasse im Vergleich zu letztem Jahr wenig los zu sein. Außerdem versorge mich noch mit ordentlich Fruchtsäften und mache es mir dann auf dem Bett gemütlich. Morgen treffe ich mich ja mit Tori, dann kann ich den Nachmittag zum Hand- Augen Koordinationstraining benutzen, praktischerweise befindet sich der Laden mit den abgefahrenen Shirts in unmittelbarer Nähe des Lifestyle.

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