Sonntag, Oktober 25, 2009

Mega- Scheiß- Tag

25.10.2009, Sonntag


Vormittags:

Diesiges Wetter, bin müde, trabe aber trotzdem schon früher in den Park, Xiao Lu könnte ja vielleicht da sein. Ist er natürlich nicht, also beobachte ich auf einer Bank das muntere Treiben. Der Meister scheint heute zum Üben mäßig motiviert, wahrscheinlich gestern wieder mal gesoffen. Ich frage nach der Sache mit den Fingerknöcheln: In der Spielhölle von Xiao Lus Gattin beim Majang mit dem Tisch umgekippt. Aha. Wilder Kerl.
Locke verteilt erst mal Frühstückszigaretten, wir üben Einzelbewegungen und Schrittfolgen, klappt ganz gut. Wieder viel Publikum da, mit dem der Meister ausgiebig plaudert. Ein junger Mann im Trainingsanzug wird Meister Wu vorgestellt und führt seine Shaolin- Form vor. Anscheinend ist er gekommen, um sich Anweisungen für das richtige Üben zu holen, da ist der Meister natürlich voll in seinem Element. Klar, viel zu steif und unlocker, irgendwann dreschen die beiden mit dem Unterarmen aufeinander ein, dass die Fetzen fliegen. Der junge Mann mit voller Kraft, der Meister pariert das locker. Besser als Kino, mir fällt die Kinnlade runter. Das lockt natürlich noch mehr Zuschauer an, ich zähle knapp 18 Leute. Nicht umsonst gilt Meister Wu als einer der besten Kämpfer Shanghais. Ich stehe die meiste Zeit eigentlich nur rum und rauche eine Kippe nach der anderen, die mir die Zuschauer zustecken, ist aber trotzdem interessant. Mian Zhang wird dann aber auch noch sehr intensiv korrigiert, natürlich unter den kritischen Blicken des Jünglings. Mann, das ist aber auch echt eine sehr schwere Form, die ich mir da ausgesucht habe. Ist zwar kurz und sieht nach nicht viel aus, aber die Bewegungen müssen außerordentlich präzise ausgeführt werden, sonst ist das nichts. Und das erfordert sehr viel Koordination. Na ja, jeden Tag ein kleines Stück, wird hoffentlich noch. Auf dem Weg zum Ausgang erzählt der Meister mir ganz viel zu dem jungen Mann, von dem ich aber nicht viel kapiere. Ob ich mich gut amüsiert hätte? Na, logo!
Zu Hause mache ich mir eine Nudelsuppe und lege mich erst mal aufs Ohr. Die Hektik der letzten paar Tage und die ständige Schlaflosigkeit fordern halt irgendwann mal ihren Tribut.

Nachmittags/ Abends:

Bin wieder einigermaßen fit und freue mich auf das Training mit Xiao Lu, tolles Wetter und keine lästigen Musikanten auf dem Übungsgelände. Bin wild entschlossen, heute alles zu geben und habe nach dem Vormittagstraining viele Fragen. Als erstes entschuldige ich mich natürlich für meine gestrige Zickigkeit, neinneinnein, schon OK, er hätte das Mädel nicht einladen sollen. Nicht doch! Höfliches Geplänkel, ich erkläre noch mal eindringlich, dass es mir sehr leid täte. Ob er das Mädel denn jetzt unterrichten würde? Nein, natürlich nicht, er unterrichtet doch keine Frauen. Jedenfalls keine Chinesinnen. Das soll mal einer verstehen.
Wir haben uns gerade mit Einzelbewegungen warm gemacht, da klingelt mein Mobilfon. Ali ist dran und teilt mir mit, dass meine Mutter gestern gestorben ist. Scheiße! Fange an zu zittern wie verrückt, mir fällt fast das Fon aus der Hand.
Xiao Lu sieht, dass da gerade wohl keine guten Nachrichten übermittelt werden und schaut sehr besorgt. Nach dem Telefonat lässt er mich erst mal hinsetzen, hockt sich vor mich und streichelt tröstend meine zitternden Hände. 8.600 Km von zu Hause entfernt, vollkommen hilflos und trotzdem habe ich hier einen Freund, der an meiner Seite ist. Voll unter Schock, kann noch nicht mal heulen, bin echt froh, dass ich jetzt nicht alleine bin. Er zerrt mich dann anschließend in ein Teehaus, damit ich mich beruhigen kann. Seine Mama ist auch gestorben, als er gerade in Korea war und er konnte nichts machen. Also versteht er meine Situation sehr gut. Wir trinken Tee und führen ein außerordentlich intensives Gespräch über diverse Dinge, wäre mein Chinesisch doch nur besser!
Nachdem ich mich wieder einigermaßen im Griff habe, fahre ich zum Hotel zurück. Viele Telefonate und Chats, der arme Ali trägt jetzt die Hauptlast. Könnte ich doch nur etwas machen! Lilo und Stefanie sichern mir ihre Hilfe zu, schönes Gefühl, gute Freunde zu haben. Ob das jetzt in Deutschland ist oder in China.
Muss morgen den Flug schon wieder umbuchen. Keine Ahnung, wie schnell ich nach Hause komme, alles offen. Was für ein Mist!

Samstag, Oktober 24, 2009

Scheiß- Tag #2

24.10.2009, Samstag

Vormittags:

Habe mich schon die ganze Woche auf Training bei Sonnenschein im Park gefreut.
Aber im Zimmer nebenan sind wieder chinesische Gäste, die die ganze Nacht lautstark gefeiert haben, weswegen ich nicht schlafen konnte. Auf dem Gang stehen zwar zweisprachige Schilder, auf denen zur Ruhe gemahnt wird, die wohl aber eher dekorative Zwecke erfüllen. Na ja, ist halt ein lustiges Volk, Chinesen das Krachmachen verbieten zu wollen ist so, als wolle man Vögeln das Singen verbieten.
Vom Sportplatz der SISU dröhnt schon um 6:30 laute Discomusik, war mal wieder nichts mit länger schlafen. Auf dem Sportplatz stehen Pavillons und lustige Ballons mit Fähnchen zappeln in der milden Brise, anscheinend irgendein Sportfest oder so. Xiao Lu hatte angekündigt, heute Vormittag im Park zu sein, aber das weiß man ja bei dem nie so genau, also dämmere ich noch eine halbe Stunde vor mich hin und mache mich gemütlich fertig.
Tatsächlich ist Xiao Lu im Park, der Meister kommt auch ziemlich früh und erzählt was von einem Unfall, den er mal wieder bei Bau- und/ oder Umräumarbeiten hatte. Auf seinen mächtigen Fingerknöcheln kleben Pflaster, die er erst mal abreißt und erneuert. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, an den ständigen Unfällen des Meisters könnte auch seine Zuneigung zu harten alkoholischen Getränken nicht ganz unschuldig sein.
Xiao Xu kommt etwas später, diesmal ohne Entourage und Getränke und wird erst mal anständig eingekleidet. Sein Fummel ist nicht so hübsch geschnitten (der Saum ist länger als die Ärmel) und wegen seiner etwas dicklichen Figur sieht er darin aus wie ein übergroßer Pandabär und bewegt sich auch so. Das behalte ich aber lieber mal für mich. Xiao Xu wird ausgiebig in den Einzelbewegungen unterwiesen und erhält vom Meister eine Theoriestunde auf Shanghainese, während ich mit Xiao Lu das Fortgeschrittenenprogramm absolviere und coole Schrittfolgen lerne. Da der Meister gerade abgelenkt ist, frage ich ein wenig nach den wüsten Geschichten, Xiao Lu lacht und winkt ab, alles halb so wild. Na ja, einiges ist wohl schon dran, der Sache mit den Weibergeschichten und dem Training muss ich irgendwann doch noch mal auf den Grund gehen.
Xiao Lu überrascht mich mit einer unangenehmen Ankündigung für das Nachmittagstraining: Eine potentielle Schülerin wird zuschauen. Der Meister darf das nicht wissen, geheim! Waaas? Zuschauer? Ich bin nicht sonderlich begeistert. Wenn hier die üblichen Verdächtigen rumlungern oder irgendwelche Passanten zuschauen, macht mir das ja nichts aus, aber vor einer Interessentin vorgeführt zu werden, ist schon eine andere Sache. Vor allem, da ich Mian Zhang seit letzter Woche nicht mehr geübt habe, weil ich keine Gelegenheit dazu hatte. Aus meinem Unmut mache ich auch keinen Hehl und sage das Xiao Lu, ist doch nicht schlimm, meint der. Das Mädel sei doch erst zwanzig und habe keine Ahnung von Kampfkünsten, ich solle mal nicht so unlocker sein. Bin mal gespannt, ich kenne mich ja und weiß, dass ich in Situationen, die mir nicht passen, eine erstaunliche Zickigkeit an den Tag legen kann. Letztes Jahr hat er mir noch gesagt, Frauen würde er nicht unterrichten, das entspräche nicht der Tradition und jetzt kommt eine Schnalle? Das wird er mir erklären müssen.
Bei den Schrittfolgen bin ich dann auch sehr wackelig, zum Glück ist Xiao Xu ja noch schlechter als ich. Schon merkwürdig, wie sich die Stimmung auf die Trainingsleistung auswirken kann.
Zum Mittagssnack der lecker Luxusfladen, dann wird der eingesaute Fummel gewaschen und die übliche SISU- Deko (frisch gewaschene Klamotten) am Fenster angebracht. So langsam muss ich hier mal eine Wäscherei auftun, immer das Zeug im Handwaschbecken notdürftig auszuspülen bringt mittlerweile auch nicht mehr viel.
Vom Sportplatz her dröhnt „We will rock you", aber um was für eine Veranstaltung es sich handelt, ist immer noch nicht zu erkennen.

Nachmittags:

Anscheinend wird ein Fußballturnier ausgetragen, sieht mir aber nicht sonderlich ernst aus. Ich beschließe, heute Mittag die kernige Kampftussi zu geben, lege ein schwarzes T- Shirt mit einem Teddy- Roboter mit abgerissenem Kopf, aus dessen Hals ein Blutstropfen quillt, an und setze die Sonnenbrille auf. So.
In Kampfesstimmung bringe ich mich mit der richtigen Musik am Ohr und fahre schon etwas früher in den Park, damit ich cool auf dem Stein rumlungern kann, wenn Xiao Lu mit dem Mädel aufschlägt. Als ich mich dem Trainingsgelände nähere, ahne ich allerdings, dass das mal wieder kein guter Nachmittag werden wird. Wenn ich dachte, dass Saxophone schlimm klingen, wenn sie falsch bedient werden, werde ich eines Besseren belehrt: Auf dem Gelände sitzt ein Typ mit einer Zugposaune, die er ganz offensichtlich überhaupt nicht beherrscht. Vielleicht sollte ich morgen mal meine Flöte mitbringen, aber gegen Blechblasinstrumente kann ich damit sowieso nicht anstinken und außerdem spiele ich selbst eine chinesische Bambusquerflöte besser als diese Dilettanten westliches Saxophon oder Posaune.
Zum Glück kann ich diese akustische Beleidigung mittels des iPod einigermaßen ausblenden, das Mädel kommt, wird von mir ignoriert und fängt schon mal an, sich zu dehnen. Ich hasse mich für meine Zickerei.
Xiao Lu hat sich auch für eine Sonnenbrille entschieden, was er wohl witzig findet. Allerdings vergeht ihm das Lachen ziemlich schnell, als er mein Gesicht sieht. Wir machen uns warm, das Mädel wird auf den oberen Teil des Geländes geschickt und hampelt ein bisschen mit. Erscheint mir unhöflich, ich sage Xiao Lu, dass er dem Mädel doch auch was beibringen solle. Nein, heute nur zugucken. Na gut.
Ob ich mir die Schrittfolgen von heute morgen gemerkt hätte? Nö. Xiao Lu gibt Starthilfe, dann geht es, klar habe ich mir das gemerkt. Irgendwann lacht er mal, als er mir zuschaut und wird von mir angefaucht, er solle mich nicht auslachen. Oh, da ist aber jemand gar nicht gut drauf. Dann tritt natürlich der schlimmste Fall ein, Mian Zhang vorturnen und das verkacke ich erwartungsgemäß total. Das heißt, die Reihenfolge kriege ich hin, aber ich weiß genau, wo die Schwachstellen sind. Natürlich schaut das Mädel aufmerksam zu, was mir unsäglich peinlich ist.
Mit einem Teil der Form, den Xiao Lu anders ausführt, war Meister Wu nicht einverstanden, deswegen muss ich den unter den schrägen Klängen des Triumphmarsches aus der Posaune neu lernen. Das Mädel versucht, es nachzumachen und ich komme mir saublöd vor. Dann gehen wir die Form Stück für Stück mit intensiven Korrekturen durch, wobei ich mir natürlich nichts schenke. Xiao Lu befiehlt mir zwar mehrmals, eine Pause einzulegen, was von mir aber geflissentlich ignoriert wird. Werde doch hier nicht vor irgendwelchen Zuschauern abstinken. Geht dann irgendwann mal, aber ich bin mit mir mächtig unzufrieden. Zwischendurch bleiben immer mal Leute stehen und versuchen, die Bewegungen mitzumachen, ich fühle mich verarscht und werde immer unglücklicher. Xiao Lu beendet den Unterricht früher und ich versuche, ihm zu erklären, was mich so bekümmert, aber ich breche fast in Tränen aus. Nein, die Leute würden mich nicht auslachen, die fänden es cool, dass eine ausländische Schnalle chinesische Kampfkünste lernt. Glaube ich, würde mich beim Anblick von chinesischen Schuhplattlern auch prächtig amüsieren und das mächtig cool finden. Das Mädel übersetzt hilfreich und meint, die würden das bewundern. Die Arme, ist ja ganz süß und hat heute von mir so eine miese Show geboten bekommen. Vielleicht hat die ja jetzt keinen Bock mehr auf Tongbei, wäre schade, chinesische Frauen sind in diesem System deutlich unterrepräsentiert.
Auf dem Weg zum Ausgang versucht Xiao Lu mich zu trösten, ich solle nicht traurig sein, sonst wäre er auch traurig und dann wäre er böse. Will ihn nicht mit den Dingen belästigen, die mich sonst noch so peinigen und erzähle ihm dann einfach, dass ich mich ohne Stefanie und Lilo einsam fühlte und deswegen schlecht drauf sei. Bräuchte ich nicht, ich hätte doch noch einen Freund in Shanghai, nämlich ihn. Dann sagt er noch was, was mich sehr berührt: Der Meister hat mit ihm geschimpft, weil er Stefanie Dong Bao Quan nicht anständig beigebracht hat. (Er hat eine entscheidende Drehung vergessen, der Schussel). Und außerdem war der Meister teilweise mit Stefanies Haltung nicht zufrieden, warum er das nicht korrigiert habe? Hätte bei mir doch auch geklappt? Daraufhin hat Xiao Lu gesagt: „Wu Laoshi, Bettina shi women de, Stefanie shi Lanshou de." (Meister Wu, Bettina ist eine von uns, Stefanie ist eine von den Lanshou Übenden). Ganz anderes System, warum hätte er ihr das austreiben sollen? Hat Meister Wu dann wohl auch eingesehen.
Die betrachten mich als eine der ihren? Nicht als irgendeine Tussi, die hier einmal im Jahr antanzt und ein bisschen was lernt und Spaß hat? Bin jetzt erst recht voll durch den Wind.
Dass der Wechsel zwischen zwei unterschiedlichen Stilen wie Tongbei und Lanshou nicht einfach ist, hat Stefanie schon selber gemerkt. Deswegen übe ich ja auch außer zwei Yangstil Waffenformen nichts anderes, ich finde, im Yangstil kann man ganz gut an den Grundlagen arbeiten. Aber deswegen ist es ja auch so frustrierend, in Deutschland keinen anständigen Tongbei Lehrer zu haben, ja nicht einmal jemanden, der mit einem üben kann. Na ja, Stefanie hat ja jetzt hier ordentlich was gelernt, dann wird das zu Hause hoffentlich nicht mehr ganz so schlimm und frustrierend sein. Und ich kann ihr ja dann die korrekte Ausführung der Dong Bao Quan inklusive Drehung beibringen.
Noch eine kleine Anekdote am Rande: Um Stefanie eine Freude zu machen, wollte sich Xiao Lu nach ihrer letzten Trainingseinheit auf englisch verabschieden und „Please come again!" sagen. Das hat sie nicht verstanden und auch ich brauche mehrere Anläufe und die chinesische Ansage. Darüber war er wohl etwas unglücklich, da er Stefanie gerne unterrichtet hat. Aber nach einigen Korrekturen kriegt er den Satz dann auch fehlerfrei hin. Also Stefanie, jetzt weißt du, dass du bitte wiederkommen sollst. Und du bist eine sehr fleißige und sorgfältige Schülerin. Jedenfalls Xiao Lus Meinung nach.

Abends:

Irgendwie habe ich wahnsinnige Lust auf Weißwein, aber keine Lust, auszugehen. Im Carrefour entdecke ich zu meiner Freude in der Backwarenabteilung einen etwas dunkleren brotartigen Gegenstand, auf dem was von Weizenvollkorn steht. Zusammen mit einer Flasche australischen Chardonnays wandert der in den Einkaufskorb, wird mir an der Kasse aber wieder entrissen, da kein Strichcode draufklebt und er deswegen nicht abkassiert werden kann. Mist, na dann halt Crepe mit ordentlich Gewürz und Knoblauch bei meiner Lieblingsnahrungszubereiterin, die auch ganz glücklich ist, mich zu sehen.
Chatte mit Lilo, die gut angekommen ist und im trüben Deutschland den angenehmen Temperaturen Shanghais und der Warmherzigkeit der Chinesen im Allgemeinen nachtrauert. Die Bude wird aufgeräumt, während nebenan die Chinesen langsam auf Betriebstemperatur kommen.
Dazu muss man sagen, dass chinesische Reisegruppen immer grundsätzlich die Türen und Fenster ihrer Zimmer weit aufzureißen pflegen, es könnte einem ja was entgehen. Die Glotze wird dann auf Maximalbeschallung gestellt und man besucht sich gegenseitig. Dabei wird dann geraucht und gerne auch gesoffen und sich lautstark unterhalten, die Glotze muss ja übertönt werden. Oder man bestellt sich eine Fußmassage. Oder alles zusammen. Die Herren tragen dann grundsätzlich keine Oberbekleidung und rollen ihre Hosenbeine hoch. Für das ganze gibt es auch einen Begriff: 热闹, rènào. Dass mir dazu keine angemessene deutsche Übersetzung einfällt, wirft wirklich ein beschämendes Licht auf unser Land. Aber wenigstens die Mainzer dürften damit was anfangen können.
Die Weißweinflasche wird entkorkt und angemessen genossen. Während ich auf Skype auf Stefanie warte, schwätze ich mit einem netten Knaben aus München, der großes Interesse an China hat. Eine chinesische Schnalle ruft auf meinem Mobilfon an und brüllt irgendwas von einem Freund, den sie sucht. Als ich ihr erkläre, dass sie sich offensichtlich verwählt hat und auflege, schickt sie mir gleich eine erklärende SMS. Ich tippe also noch mal im Klartext, ich wisse nichts von einem Freund, sie habe sich verwählt und wer sie denn sei. Die Dame entschuldigt sich, sie sei halt sehr besorgt um den Freund, dumm gelaufen. Mei Guanxi, keine Ursache. China ist verrückt.

Freitag, Oktober 23, 2009

Wieder alleine

23.10.2009, Freitag

Habe eben Stefanie und Lilo in den Flughafenbus gesetzt, schon ein komisches Gefühl, denn ich hätte ja normalerweise auch auf diesem Flieger sein sollen. Die letzten zehn Tage waren ereignisreich, als der Bus mit den beiden dann auf meinem Rückweg ins SISU an mir vorbeifuhr, erwischte ich mich dabei, dass ich laut „Ach Mensch, Mädels!" sagte und mir eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Was hatten wir uns nicht alles ausgemalt, was wir machen wollten, jetzt musste ich arbeiten. Ist aber trotzdem genug passiert, jetzt mal hübsch der Reihe nach:
Letzte Woche Dienstag kam Stefanie hier an, der erste Abend wurde natürlich gleich mal traditionell mit einer feierlichen Maximalausnutzung der Happy Hour im Barbarossas begangen. War etwas unfit auf der Arbeit am nächsten Tag, aber egal. Da ich ja nun keine Zeit hatte, mit ihr um die Häuser zu ziehen, hat sich Stefanie dann entschlossen, auch ein etwas intensiveres Trainingsprogramm zu absolvieren. Netterweise hat Xiao Lu sie nachmittags unterrichtet. Freitags endlich hat sie mich von der Arbeit abgeholt und wir haben im Garten von Sashas einen geschmeidigen Abend verbracht und die beste Pizza Shanghais genossen. Chinesisches Essen ist ja echt lecker, aber ab und an was Westliches ist auch nicht schlecht.
Samstag wollten wir eigentlich gemeinsam üben, aber kurzfristig hatte Wujie Zeit für sie, was sie dann natürlich wahrgenommen hat. Also bin ich alleine in den Park getrabt, wo dann auch außer mir nur noch Xiao Xu zum Training erschien. Der hatte auch gleich zum Zuschauen seine Mutti und drei männliche Familienmitglieder unklarer Zuordnung mitgebracht. Geile Sache: Alle vier saßen kettenrauchend am Rand und kommentierten hämisch die unzureichende Trainingsleistung des Sprösslings, vor allem beim Formlaufen. Mutti hatte knallrote, spitz zugefeilte Zehnägel, ständig eine Kippe im Maul und war üppig mit Gold behangen, einer der Knaben benutzte die Zigarettenpausen ständig dazu, Xiao Xu von hinten in die Kniekehlen zu treten. Aber mir wurden sofort ein Getränk und ordentlich Kippen in die Hand gedrückt. Nettes Volk. Da Xiao Xus Pappi wohl ordentlich Kohle hat und den Meister gut bezahlt, legte der sich natürlich besonders ins Zeug. Alle durften mal hauen und wurden gehauen, großer Spaß bei allen Beteiligten. Das Bild, wie Meister Wu noch beim Umziehen mit einer Kippe in der einen und seinen Jeans in der anderen Hand in Unterhosen doziert, hat sich unauslöschlich in mein Gehirn eingebrannt.
Nach dem Training bin ich zur Ausländerbehörde nach Pudong gefahren, um den Pass abzuholen und kam auf dem Weg zur Metro durch eine Strasse, in der wohl mittags immer ein Markt stattfindet. Kannte die noch von früher, aber da war da weniger los. Richtig klasse, altes und ursprüngliches Shanghai. Kurioseste Marktbesucherin: Eine Dame mit hohen Hacken und feiner Kleidung, die rauchend einen Rehpinscher ausführte und die Haare in Lockenwickler gedreht hatte.
Nachmittags trafen Stefanie und ich uns im Volkspark zum traditionellen Kaffe bei Starbucks und anschließendem Essen im Vegetarian Lifestyle. Fußmassage war auch noch drin (Stefanie hat da einen nicht üblen Laden aufgetan). Derartig gestärkt konnten wir uns unserer neben dem Üben anderen Lieblingsbeschäftigung hingeben: Dem Shoppen. Auf der Suche nach einem Musikaliengeschäft stolperten wir durch eine Gasse mit Massage- und Nagelstudiobedarf, wo wir natürlich in die Falle gingen. Ein Laden hatte Nagellacke in allen Farben des Spektrums sowie alles, was man zur Verlängerung und Pflege von Klauen so braucht. Keine von uns beiden lackiert sich außer zu Fastnacht die Fingernägel, aber wir konnten einfach nicht wiederstehen. Wo findet man bei uns schon pinkfarbenen Glitzerlack mit Diamantsplittern! Sieht im Sommer auf den Fußnägeln bestimmt bombig aus. Den Musikalienladen haben wir dann auch noch gefunden und jede eine hübsche Bambusquerflöte erstanden. Der Erwerb völlig nutzloser und unvorhergesehener Dinge (Don't buy shit!) musste natürlich bei Barbarossas wieder ausgiebig gefeiert werden.
Nach der überraschend zügigen Abarbeitung unseres Shoppingprogramms haben wir uns dann Sonntag das volle Vor- und Nachmittagstrainingsprogramm gegönnt, sehr fein.
Diese Woche Dienstag kam dann auch Lilo mit leicht lädiertem Magen aus Wudang, was sie aber nicht davon abgehalten hat, bei Barbarossas ein paar Getränke zu sich zu nehmen. Wir schreiben fast Vereinsgeschichte: Erste Vorstandssitzung auf chinesischen Boden. Leider fehlt Stefan, aber auf den trinken wir einen.
Mittwoch hat Meister Wu zum Essen geladen, sollte erst bei ihm zu Hause stattfinden, wird dann aber überraschend verlegt, da wir dann doch zu viele Leute sind. Die Mädels dürfen seine neue Bude gebührend bewundern, ich hetze direkt in Richtung Hongkou (Stadtteil) und werde unterwegs instruiert, am Park zu warten.
Und das wird dann mal wieder richtig klasse: Außer uns sind noch Rose und etliche chinesische Schüler des Meisters da, insgesamt knapp 17 Personen. Als erstes wird eine Literflasche Johnnie Walker auf den Tisch geknallt, uns werden die Ehrenplätze zugewiesen. Dann wird eine Speise nach der anderen geliefert, ich glaube, alles, was das Restaurant zu bieten hat und auch der Alkohol fließt in Strömen. Das lustige Männlein ist auch da und läuft schon bald wieder zur Höchstform auf. Die vermeintliche Gemahlin des Männleins entpuppt sich als Meister Wus Exgattin, irgendwie haben die beiden sich wohl wieder zusammengerauft. Wie schön. Das Männlein singt ein Lied nach dem anderen und rennt ständig um den Tisch, um Lilo und mir Kippen zuzustecken, uns Speisen in die Essschalen vorzulegen und Bier nachzuschenken. Irgendwann werden wir dann auch aufgefordert, eine deutsche Weise zum besten zu geben und bekommen nach anfänglichen Panikattacken unter Stefanies Dirigat „Theo, spann den Wagen an" sogar als Kanon hin. Der Meister ist der Meinung, es sei jetzt zwar schon ordentlich gesoffen und gegessen worden, aber um den Abend perfekt zu machen, müsse noch mehr gesoffen und gegessen werden. Woraufhin weitere Speisen und Getränke aufgetragen werden. Das Männlein bringt einen Trinkspruch nach dem anderen und hat schon Ärmel und Hosenbeine hochgerollt, irgendwann schaffe ich es auch mal, „Women ai Zhongguo (Wir lieben China)" zu brüllen, was von der Tafelrunde beifällig quittiert wird. Die Stimmung erreicht den Siedepunkt, als die Herren ihre Tongbei- Fähigkeiten aneinander demonstrieren, wobei sich das Männlein besonders hervortut. Wir rechnen ständig damit, dass entweder die Innenausstattung, die Verglasung oder das Männlein zu Schaden kommen, aber wie durch ein Wunder passiert nichts dergleichen. Neben mir sitzt Jeremy (seinen chinesischen Namen weiß ich nicht), den ich noch von früher kenne und den ich diskret nach dem Namen des Männleins frage. Der weiß den auch nicht und brüllt in die Runde, das Männlein heißt Zhou (oder Zhu) Wan irgendwas und fragt nach einem englischen Namen für sich. Habe da was falsch verstanden (dachte, man fragt mich nach einer Übersetzung) und sage spontan „Monkey", ab jetzt nennt er sich nur noch so. Das Männlein und alle anderen sind begeistert. Hastig erkläre ich Jeremy, dass Männlein erinnere mich an Sun Wu Kong (für die Westler: Monkey King) aus der „Reise nach Westen" (chinesischer Klassiker), jetzt punkte ich auch noch mit meiner vermeintlichen Bildung. Irgendwann ist dann auch endlich mal genug gesoffen und gefressen worden, Gruppenfotos werden geschossen und das war es dann. Geiler Abend, Chinesen rocken.
Donnerstag bin ich immer noch so vollgefressen, dass ich nichts frühstücken kann und auch auf der Arbeit nicht ganz online. Schaffe es aber trotzdem, Details für eine Wandverkleidung aus gefalteten Cortenstahlblechen zu entwickeln, bin nicht unzufrieden. Abends besucht Lilo ihre Freundin Victoria und Stefanie du ich treffen uns mit Wujie und Meister Wu in der Stadt zum Essen. Wird ein lustiger Abend und eine Theoriestunde außerdem. Wujie meint, er habe mich 2007 im Chinacamp beobachtet, habe ja alles sehr hübsch ausgesehen, aber jetzt müsse ich mal mit meinen inneren Kräften arbeiten. Klar, versuche ich ja, wozu bin ich denn hier. Immerhin ist er zufrieden, dass ich das Prinzip anscheinend begriffen und das auch hinreichend auf Chinesisch darlegen kann, auch Meister Wu brummt zustimmend. Der Meister erzählt noch ein paar wüste Geschichten, unter anderem, wieso er keine Chinesinnen unterrichtet, aber das würde jetzt hier den Rahmen sprengen.
Heute erledigen die Mädels noch diverse Einkäufe, gönnen sich eine Trainingseinheit und ich fetze auf der Arbeit Details raus, dass es nur so kracht. Als sich um halb sieben der erste Kollege trollt, schließe ich mich gerührt an, hetzte nach Hause und erwische Lilo und Stefanie auf dem Weg zum Flughafenbus und das war es dann.
Seit zehn Tagen mal wieder der erste Abend, den ich zu Hause und alleine verbringe. In diesen Minuten dürfte der Flieger in Richtung Frankfurt starten, draußen blinken die Wolkenkratzer und ich bin noch hier.

Freitag, Oktober 16, 2009

Mit der Strömung schwimmen

16.10.2009, Freitag

Kein Training die letzte Woche, da ich hier kurzfristig einen Praktikantenplatz bekommen habe. Und zwar in einem meiner Meinung nach der besten Büros Shanghais. (Was anderes hätte ich auch nicht gewollt).
Jeden Tag mit der hart arbeitenden Masse der Shanghaier lemminghaft in die Metro gespült, mittlerweile schlängele ich mich geschmeidig in den Zug und weiss mir einen der begehrten Plätze am Haltegriff oder manchmal sogar einen Sitzplatz zu erhaschen. Egal, ob ich mit der Metro Nr.8 oder mit der 3 fahre, alles gleich. Dou keyi. (Geht alles). Ich will hier nicht mehr weg, jedenfalls nicht so schnell. Shanghai ist geil, aufregend, voller Leben und vor allem ist hier Meister Wu, bei dem ich am Wochenende üben kann. Bin zwar relativ alt für solche Späße, aber in Deutschland kann ich immer noch in zehn Jahren Sessel warmpupen.
Und so sehe ich mich als Architektin mit ordentlich Berufserfahrung zurückgestuft auf Anfängerstatus, da ich zwar grob allen Gesprächen folgen, aber mich kaum selbst einbringen kann. Meine Kollegen sind alle so 20 Jahre jünger als ich, gerade mit der Uni fertig und machen diesen Job als Zwischenstadium, bevor sie zu Masterstudiengängen ins Ausland abhauen. Aber hier kommt der Spaßfaktor: Die jungen Leute spinnen, was das Zeug hält und ich alte Schnalle denke mir aus, wie wir das umsetzen. Und das macht echt Spaß, kann ich kaum beschreiben. Mein Englisch ist zwar nicht schlecht, aber „Kragarm" oder „biegesteife Verbindung" kriegt man ja in der Schule nicht unbedingt beigebracht, auf chinesisch schon gar nicht. Da wird halt viel skizziert und mittlerweile kann ich das statische System besser auf chinesisch als auf englisch erklären.
Und ich liebe meine Kollegen. So nette junge Leute, wie alle Chinesen, mit denen man enger zu tun hat, sind die hilfsbereit, höflich und gastfreundlich. Zum Beispiel haben wir Mittags eine Ayi (Tante), die für uns kocht. Normalerweise gibt es Reis und ein Fleisch- und ein Gemüsegericht. Seit die Ayi rausgefunden hat, dass ich Vegetarierin bin, gibt es nur noch Gemüse. Ist mir peinlich. Und meine Kollegen drücken mir ständig Knabbereien in die Hand. Mmmmh. Lecker geröstete Knoblaucherbsen. Oder in Chili eingelegte Bohnen. Zum Frühstück. Da will man ja auch nicht unbedingt Spielverderber sein.
Habe heute lecker deutsche Schokolade mitgeschleppt, hatte aber wegen Streß und Besprechungen keine Chance, die loszuwerden. Vielleicht nächste Woche.
Morgen ist Samstag, freue mich aufs Training...

Sonntag, Oktober 11, 2009

Business as usual #4

11.10.2009, Sonntag


Vormittags:


Habe mich die ganze Nacht schlaflos und heftig niesend im Bett rumgewälzt, war ja klar, dass ich eine Erkältung kriege. Geht aber noch, also Training. Bin die einzige Schülerin, noch nicht mal Locke schlägt auf. Eine klasse Einzelstunde beim Meister, Es hapert bei mir zwar etwas mit der Konzentrationsfähigkeit, aber ich komme ganz gut mit. Die Form versuche ich unter besonderer Berücksichtigung der Gewichtsverlagerungen zu laufen, klappt auch.

Nach dem Unterricht erklärt der Meister, er fühle sich „hen shufu" (sehr wohl) und erkundigt sich noch mal genau, wann Stefanie denn käme. Flugzeug landet Dienstag früh? Dann Mittwoch im Training? Ja, das ist der Plan. Und wir sehen uns dann Samstag wieder.


Nachmittags/ Abends:


Die Tickettussi ist zwar da, erklärt mir aber, sie könne nicht für mich umbuchen, da ich das Ticket nicht bei ihr gekauft habe. Na, dann halt nicht. Sie schreibt mir aber die Hotline- Nummer von China Eastern auf, wo ich auch gleich anrufe. Nach ein paar Minuten in der Warteschleife schaffe ich es, mein Ticket umzubuchen, 900 RMB Gebühr, geht ja direkt. Sehr schön, dann ist ja alles geritzt.

Die Genossen von der Reinigungsbrigade vertreiben mich höflich, aber bestimmt aus dem Zimmer, in der Zwischenzeit kläre ich, ob ich auch länger hier im Hotel bleiben kann. Ja, geht, also das auch in trockenen Tüchern.

Treffe mich mit Xiao Lu im Park, irgendwie läuft es gar nicht rund und ich habe am Wasser gebaut. Muss an der Erkältung liegen. Er denkt natürlich, das läge daran, dass nichts bei mir klappt und ein klärendes und tröstendes Gespräch folgt. Danach läuft es besser und ich bekomme zur Belohnung einen Mondkuchen, der aus den Tiefen des Rucksacks gezaubert wird. Eine zierliche kleine Maus mit pinkfarbenen Strechhosen und Glitzerschühchen schaut uns zu und fragt ganz interessiert, was das für ein Stil sei? Fachgespräch mit Xiao Lu, es stellt sich heraus, dass sie aus Chongqing ist und in Shanghai studiert. Und auch Xing Yi übt. Xiao Lu fordert sie auf, doch mal eine Probe ihres Könnens zu geben, die Maus geht in Position und entschuldigt sich erst mal für ihr Schuhwerk. Dann stößt sie einen Schrei aus und lässt in einer Schrittfolge heftigste Schläge niederkrachen, das ganze auch noch supertief und sehr geschmeidig. Wow! Mit der Maus würde ich mich nicht anlegen wollen! Sie erntet anerkennende Worte von Xiao Lu und winkt ab, die Schuhe... Als die Maus weg ist, meint Xiao Lu dann allerdings, das habe zwar heftig (lihai) ausgesehen, aber alles nur äußerlich. Mit innerer Kraft und Entspanntheit könne man viel mehr ausrichten. Das üben wir dann auch gleich mal, die Prinzipien von Yin und Yang an den einzelnen Körperteilen und in den Bewegungen werden erörtert. So komme ich zu einer 1a Stunde in Theorie und Praxis, Meister Wu erklärt so was leider nicht. Eigentlich wollte ich ja als Gedächtnisstütze noch ein Video von der Form schießen, leider ist es mittlerweile zu dunkel. Na ja, nächste Woche halt.

Abends brühe ich mir Nudelsuppe auf und chatte mit Lilo, die allerdings ständig aus dem Netz fliegt. Mieses Wetter in Wudang, da wird ja Shanghai für sie die reinste Kur werden.

Samstag, Oktober 10, 2009

Stress

10.10.2009, Samstag

Habe mich entschieden, noch zwei Wochen länger hier zu bleiben. Das heißt, der Flug muss umgebucht und das Visum verlängert werden. Hier im Guesthouse gibt es einen Ticketservice, allerdings kommen die erst um 9:00. Angeblich. Wurde mir jedenfalls gestern an der Rezeption ausgerichtet. Um 9:00 kommt keiner, die Maus an der Rezeption sagt, es sei unklar, ob jemand erschiene. Warte ne halbe Stunde, versuche selber, bei China Eastern anzurufen, spricht natürlich keiner Englisch, übers Internet geht die Umbuchung auch nicht. Muss im Park unbedingt Oskar treffen, haue also dahin ab. Der Meister ist prächtig drauf, ich überbringe ihm die frohe Kunde, dass ich zwar länger bliebe, aber ab nächste Woche nur am Wochenende kommen könnte. Der gefürchtete Rotkotvogel erwischt sowohl Oskar als auch mich, ich habe nur einen Klecks auf der Schulter, Oskar hat allerdings die volle Breitseite abbekommen.

Nach dem Training fahren Oskar und ich ein Stück mit dem Bus, dann gurken wir mit seinem Motorroller durch Pudong zum Amt für öffentliche Sicherheit. Pudong finde ich langweilig, Riesen- Avenuen, kaum Verkehr, voll die Retortenstadt. Da lobe ich mir doch diese Seite des Huangpu, viel netter und gewachsene Architektur. Oskar ist ein sehr risikofreudiger Fahrer und quatscht die ganze Zeit. Von Zeit zu Zeit brüllt er andere Verkehrsteilnehmer mit seinem breiten amerikanischen Akzent an („get out off me way, motherfucker! This is the bike lane, you goddamned basterd!"), was aber keinen weiter stört.

In der Ausländerbehörde ziehe ich die Nummer 216, momentan ist gerade 148 dran und nur zwei Schalter sind geöffnet. Oha, ob ich das bis 15:00 zurück in den Park schaffe? Neben mir sitzt eine nervige Deutsche, die wichtig mit ihren Unterlagen raschelt und ständig belangloses Zeug in ihr Mobilfon quatscht. Nach zwei Stunden des Wartens werde ich etwas nervös und schicke dem Meister eine SMS, er möge doch bitte Xiao Lu sagen, ich käme später. Dann geht auf einmal alles rasend schnell, ein weiterer Schalter wird geöffnet und die Nummern springen rasant vor. Anscheinend waren einige des Wartens müde und sind abgehauen. Ich gebe meinen Pass und den Antrag zusammen mit meiner polizeilichen Meldung ab, muss in eine Webcam lächeln- alles klar, Freitag kann ich den Pass abholen. Wichtigste Hürde geschafft.

Zum Park fahre ich mit dem Taxi, schicke unterwegs eine SMS, das alles klar wäre und ich doch pünktlich käme und bin um 14:45 im Park.

Zu meinem Entsetzen hat sich der grauenhafte Saxophonspieler wieder auf unserem Trainingsgelände breit gemacht, also lauere ich auf einer Bank. Der Saxophonspieler trollt sich zum Glück, als Xiao Lu kommt, dafür wird aber der Zaun des Parks gerade gestrichen, was grauenhaft stinkt. Möchte nicht wissen, was für Umweltgifte wir da jetzt noch zusätzlich inhalieren. Die Hosen sind fertig, sehr hübsch. Als Xiao Lu hört, dass ich den ganzen Tag unterwegs war und noch nichts gegessen habe, zaubert er aus seinem Rucksack einen leckeren Keks hervor. Lilo und er werden sich sicher prächtig verstehen, denn dieser Rucksack ist ein Füllhorn der nützlichen Dinge wie Nahrung, klappbaren Kleiderbügeln und dergleichen. Xiao Lu hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich bei einer bestimmten Einzelbewegung endlich mal Fa Jing produzieren soll, schließlich knallen meine Arme auch leise. Xiao Lu sagt, das er darüber sehr glücklich sei. Ein Riesenschritt, meint er und ich bin sehr stolz. Die Form klappt auch so einigermaßen, muss das einfach noch öfter wiederholen.

Mittlerweile bin ich ziemlich matt und hungrig, mit Buch zu Pizza- Hut, das Zeug stopft wenigstens ordentlich. Muss ständig niesen und die Gräten tun mir auch weh, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Fühle mich einsam und krank, deswegen wird im Zimmer erst mal die Glotze eingeschaltet, wenigstens hat man dann Ansprache. Keine Lust auf das lahme Internet, lieber schön ins warme Bett und noch ein wenig lesen.

Freitag, Oktober 09, 2009

Business as usual #3

09.10.2009. Freitag


Vormittags:


Die Staatsferien sind vorbei und das merkt man auch deutlich am Straßenverkehr. Heute sind nur Oskar und ich da, später kommt dann noch Xiao Dou, der junge Mann, den ich noch von letztem Jahr kenne. Da werden wieder viele Anwendungen geübt, die der Meister ausgiebig erklärt. Ist für Oskar natürlich blöd, aber den scheint das nicht zu stören. Für mich klasse, denn Xiao Dou ist sehr ambitioniert und stellt schlaue Fragen, von denen ich auch profitiere. Dem Meister geht es nach der gestrigen Pause anscheinend wieder prächtig, allerdings haben seine beiden Katzen ihm das Bein zerkratzt. Selber dran schuld, er geht mit den Tieren manchmal ganz schön ruppig um. Da er heute wieder zum Arzt muss, machen wir früher Schluss. Ist mir nicht ganz unrecht, denn ich habe letzte Nacht sehr lange mit Ali gechattet und bin hundemüde.


Nachmittags/ Abends:


Kann nicht schlafen und stinke deswegen beim Nachmittagstraining mit Xiao Lu ganz schön ab. Ich glaube, so schlecht war ich noch nie. Na ja, werde die Form ja wohl noch in den Griff kriegen. Ich versuche, Xiao Lu als Dankeschön zum Essen einzuladen, was der aber ablehnt. Nein, das ginge nicht. Ich hätte jetzt schon so viel Geld ausgegeben, um herzukommen, ich sei ja nur eine arme Studentin, da ginge das nicht. Verstehe einer die Chinesen!

Nach dem Training eile ich in das Elektronikkaufhaus, die Frau von gestern ist nicht da. Ich wedele aber mit meiner Quittung, ein wenig Gekreische zwischen den Standbesitzern und siehe da: Meine Akkus sind da! Wahnsinn. Die Frau vom Stand ruft die andere Frau von gestern zur Sicherheit noch mal an, ob ich denn wirklich Vorkasse geleistet hätte. Ja, alles klar. Man darf sich das hier nicht so vorstellen wie bei uns einen Elektronik- Fachmarkt. Dies hier ist ein ziemlich vergammeltes Gebäude, in dem sich auf zwei Etagen diverse Stände befinden. Unten ist die Computerabteilung, oben die für Mobiltelefone. Alles sehr provisorisch. Dass in diesem ganzen Chaos was klappt, ist eigentlich kaum vorstellbar. Na ja, China halt.

Donnerstag, Oktober 08, 2009

Halbzeit

08.10.2009, Donnerstag

Um drei Uhr nachts meldet mir die Wunderwaffe dröhnend den Eingang einer SMS. Fluche und ziehe mir die Decke über den Kopf, um 6:00 weckt mich eine auf dem Sportplatz unter kernigem Gebrüll exzerzierende Truppe der Wachschergen. Ich schaue mal nach, wer mich denn da heute Nacht mit einer SMS beglückt hat: Meister Wu (oder vielmehr sein der englischen Sprache mächtiger Sohn) schreibt auf englisch, heute kein Unterricht, sein Bein wäre schlimm, er könne nicht laufen und wolle zwecks Spritze zum Arzt. Kommt mir jetzt auch nicht ungelegen, also schlafe ich noch mal zwei Stunden. In den Park fahre ich dann nicht. Zwar hat Xiao Lu gestern gesagt, er käme morgens da hin, aber man weiß ja nie.

Ich mache mich gemütlich fertig und bummele durch den Lu Xun Park zu der Einkaufsstraße, die auch der Bus Nummer 18 immer entlang fährt. Ist ja auch körperliche Ertüchtigung. Recht nette Geschäfte, in einem erwerbe ich eine preiswerte Sonnenbrille, da ich keine dabei habe. Auf dem Rückweg schaue ich in dem Laden vorbei, in dem ich letztes Jahr meine Wunderwaffe gekauft habe. Einer der Akkus ist schon im Eimer, deswegen suche ich einen neuen. Nach einigem Rumgefrage lande ich an einem Stand, die mir angeblich die Akkus bestellen können. 60,- RMB pro Stück, natürlich gegen Vorkasse. Na gut. Ein Bestellzettel wird ordnungsgemäß ausgefüllt, die Standbesitzerin stellt Fragen, die ich nach bestem Können beantworte und mein Chinesisch wird gelobt. Ich erhalte eine Quittung, auf die die Fonverkäuferin ihre Mobilnummer schreibt, morgen um 16:00 sind die Akkus angeblich da. Lassen wir uns mal überraschen. Stehe auf dem Rückweg zum Guesthouse neben einem Pulk Motorradfahrer an der Ampel, da quatscht mich ein schnurrbärtiger Herr, der seine Gemahlin auf dem Rücksitz hat, auf englisch an. Sein Name sei Soundso, wo ich denn herkäme? Ah, Deutschland! Zum ersten Mal in Shanghai? Nein? Ob mir die Stadt gefiele? Ja schön! Dann noch einen angenehmen Aufenthalt! Die Ampel springt auf Grün, der Herr verabschiedet sich freundlich, gibt Gas und braust davon. Chinesen sind einfach geil.

Den Nachmittag verbringe ich in der French Concession auf den Spuren der 30er Jahre Architektur, habe aber dummerweise die Kamera im Zimmer liegen lassen, ich Trottel. Na ja, gibt ja noch mehr zu entdecken.

Keine Lust, abends auszugehen, hole mir bei Carrefour eine Flasche hoffentlich halbwegs anständigen Weißwein und pappiges Brot, heute Abend ist Fernsehen angesagt. SMS von Meister Wu, morgen 9:00 Heping Park, bestens.

Mittwoch, Oktober 07, 2009

Fa Jing- Volles Rohr

07.10.2009, Mittwoch

Vormittags:

Endlich mal prima geschlafen, deswegen bin ich früh im Park, Xiao Lu leider nicht. Egal, ich beobachte ein Damenquintett bei der 24er Yang Stil Form. Alle tragen rosa Anzüge, an die sie Jasminblüten geheftet haben. Entzückend. Langsam kommt der Herbst nach Shanghai, Morgens und Abends kann es schon mal frisch werden, aber immer noch sehr angenehm.

Oskar und ich sind die einzigen Schüler, da der andere Tongbei- Typ nicht da ist, beschließt Meister Wu, diese Stunde dem „Fa Jing" zu widmen. Das müsse ich jetzt endlich mal anständig lernen. Und das heißt, dass wir natürlich ordentlich verdroschen werden beziehungsweise selber auf den Arm oder die Hand des Meisters dreschen müssen bis zum Abwinken. In der Theorie hört sich das ja alles gaaanz einfach an: Schön entspannt Faust oder Handfläche vorschnellen lassen, dabei die Hüfte drehen, kurz vor dem Auftreffen einen kurzen Impuls geben. Und natürlich muss der Geist durch das Ziel denken und beim Kontakt Energiepotential freigesetzt werden. Kommt alles von innen aus dem Körper, bloß keine Kraft benutzen. Und schön präzise immer exakt den selben Punkt treffen. Wenn man das richtig macht, knallen die Ärmel unserer Fummel. Meine flappen manchmal ein bisschen, außerdem ist das noch schwieriger, wenn man ein konkretes Ziel wie eine Hand dabei ins Auge fassen und treffen muss. Mein rechter Unterarm ist von den Schlägen bald grün und blau, der Meister findet es anscheinend ziemlich kernig, dass ich lache, wenn er mich haut. Seine chinesischen Studenten jammern da in der Regel.

Oskar wird zum Statisten degradiert, da er ja kein Chinesisch kann und die ausführlichen Erläuterungen des Meisters sowieso nicht versteht. Zum ersten Mal sehe ich auch die Schnallen von der Wu- Stil Gang wieder, die erkennen mich auch und dürfen gleich auch ein wenig hauen. Sie werden allerdings von ihrem Lehrer versetzt, deswegen schauen sie uns ein wenig bei den Schrittfolgen zu, die wir natürlich auch mit mächtig Fa Jing laufen und ziehen dann ab. Auch bei der Form alles mit Kraftfreisetzung, muss mich allerdings noch zu sehr auf die Reihenfolge konzentrieren, als dass ich hier irgendwas freisetzen könnte. Außerdem führt der Meister manche Teile völlig anders aus, als Xiao Lu mir das beigebracht hat, das verwirrt mich zusätzlich.

Beim Umziehen kommt der arme Meister kaum in seine Hosen, Akupunktur und Spritzen haben wohl wenig gebracht. Langsam mache ich mir echt Sorgen, hoffentlich hat der sich nichts angebrochen oder so. Auf dem Weg zum Ausgang frage ich ihn, ob er nicht mal zum Arzt will? Bringt nichts, Akupunktur wird es schon richten. Na dann.

Nachmittags/ Abends:

Hole mir den Luxusfladen und krache nach dessen Verzehr wie eine Tote aufs Bett. Nach einer Stunde Schlaf geht es, im Park ist auf unserem Trainingsgelände zum Glück niemand. Um unsere Ansprüche gegen etwaige lästige Eindringlinge mit Musikinstrumenten geltend zu machen, setzte ich mich auf einen Stein und schaue einem Typen mit Nunchakos zu, der gegenüber übt. Nicht mein Ding, würde mich damit wahrscheinlich selbst außer Gefecht setzen.

Xiao Lu war gestern beim Frisör und hatte heute morgen keinen Bock, da zu viele Leute im Park, aber er hat sich um meine Hosen gekümmert. Leider hatte der Schneider nur noch Stoff für ein Paar, egal. Bin sehr erfreut, die Hosen sind jetzt in der Mache.

Ich bitte ihn, mit mir die Schrittfolgen zu wiederholen und schreibe mir die Abfolge auf. Ist noch besser als Video, denn so ist man gezwungen, das für sich selbst klarzukriegen. Ich wiederhole die Schritte, bis es endlich sitzt, das mit dem Fa Jing lasse ich mal lieber.

Mir werden die letzten Bewegungen der Form beigebracht, eine Abfolge von Schlägen mit dem poetischen Namen „Fünf Blumen explodieren". Ich fürchte allerdings, bei mir explodiert da nichts, sieht wohl eher aus wie ein Kind, das schwächlich mit den Armen rudert. Die ersten drei Schläge sollten schön im Gesicht landen, die beiden letzten an der linken und der rechten Schulter. Diese Anwendung wird auch ausgiebig geübt. Ich spreche ihn auf die Unterschiede zwischen ihm und den Meister an. Er meint, entweder wäre des Meisters Ausführung bestimmter Teile nicht piaoliang oder nicht nützlich. Und jeder Schüler entwickele irgendwann mal seine eigene Interpretation einer Form. Der Meister betont halt mehr den kämpferischen Aspekt, er selber ist halt mehr der Ästhet. Ich beschließe, mich an Xiao Lus Interpretation der Form zu halten.

Wir schauen uns in meinem schlauen Buch meine Aufzeichnungen vom letzten Jahr an und wärmen liebe Erinnerungen auf. Zum Thema Fa Jing meint er, das sei doch ganz einfach, man müsse doch nur ganz entspannt usw. Ausländer würden das nicht kapieren, aber der Kampfkünste kundige Chinesen schon, deswegen würden sie ja auch in der Öffentlichkeit den Fuß vom Gas nehmen und ihre Fähigkeiten verbergen. Soso, Ausländer sind nicht in der Lage, das zu verstehen. Das wollen wir doch mal sehen.

Habe keinen Bock, noch groß auszugehen, fresse daher eine Tüte Chips und chatte ausgiebig mit Lilo in Wudang. Gleich werde ich noch mal das Architekturbuch studieren, dann früh ins Bett. Bin nach der Toberei heute hundemüde. Morgen dann volles Rohr Fa Jing.

Dienstag, Oktober 06, 2009

Shanghai Triathlon #2

06.10.2009, Dienstag


Vormittags:


Die Uni hat anscheinend wieder angefangen, schade, war so schön ruhig hier die letzten Tage. Im Bankettsaal findet wohl eine Hochzeit statt, jedenfalls werden üppige Blumengebinde herbeigeschleppt und im Aufzug transportiert eine Gruppe Chinesen Unmengen Schnaps. Da der Meister heute nicht kommt, bin ich mit Xiao Lu zum Training verabredet. Und der fährt ein ganz anderes Programm als Meister Wu.Erst mal ohne Unterbrechung eine Stunde lang alle Einzelbewegungen, dann Schrittfolgen. Groß gequatscht wird nicht. Ich finde die Schrittfolgen ganz schön kompliziert, egal, weitermachen. Zwei Durchgänge in Zeitlupentempo, dann zwei Durchgänge mit Schmackes. Und bitteschön so tief, wie es geht. Und es geht immer noch ein wenig tiefer. Versuche mühsam, meine Arme in die richtige Reihenfolge zu bringen, da wird auch schon an meiner Fußstellung rumgemeckert. Nein, so ginge das nicht, machen alle anderen Schüler falsch, ich soll das gefälligst richtig machen, das wäre dann Gongfu. Bewegt sich mein Fuß auch nur um einen Millimeter, wird heftig geknurrt. Nach einer Stunde intensiven Übens der Schritte ist er halbwegs zufrieden und verordnet mir eine Zigarettenpause. Der Wu- Stil Typ ist mittlerweile aufgetaucht und übt mit einer älteren Dame. Den hatte ich dieses Jahr noch gar nicht gesehen, dachte schon, die Wu- Stil Gang hätte sich einen anderen Platz gesucht. Beobachte die beiden in der Pause, Wu- Stil sieht echt blöd aus, finde ich. Nicht trödeln, weiter geht es, noch eine Stunde lang Form. Wenigstens höre ich jetzt öfter mal das Wort „piaoliang". Ich petzte, dass Oskar noch nicht mal wusste, wie diese Form heißt und Xiao Lu schüttelt den Kopf. Oskar sei halt ein Schwätzer.
Nach diesem Intensivtraining beschließen wir, uns den Nachmittag frei zunehmen, Xiao Lu ist ziemlich erkältet (sind irgendwie alle angeschlagen dieses Jahr) und ich hätte bei diesem herrlichen Wetter nichts gegen ein wenig Shopping. Wir quatschen noch ein wenig und meine Meinung über das Üben von Anwendungen wird bestätigt. Er zeigt mir die Anwendung zu dem heute Erlernten und sagt dann, das sei sehr wichtig zu wissen. Viele Ausländer würden so Taiji üben: Er schließt halb die Augen, lächelt entrückt und macht die „Hände im Wolkenfluß". Das sei ganz falsch, zwar vielleicht hübsch anzusehen, aber ohne Inhalt und Sinn. Stimmt. Über des Meisters ausländische Studenten im Volkspark regt er sich auch noch auf: Sollten die doch in den Heping- Park kommen, wenn die von ihm lernen wollten. Er hält es für unter des Meisters Würde, sich den Stress zu machen und da hinzufahren. Sehe ich eigentlich genauso, aber das ist nicht meine Sache. Wir ziehen und um und Xiao Lu katapultiert sich in die Liga der Coolness- Götter: Er hat ein Batman T- Shirt an! Ich fange begeistert an zu kreischen und weiß selbstverständlich, was Batman auf chinesisch heißt (蝙蝠侠, biãnfúxiá). Über meine enthusiastische Reaktion ist er etwas verunsichert, aber ich erkläre, dass das mein Lieblingssuperheld sei und ich den total lihai und bangjile (voll geil) fände. Die Filme findet er auch klasse, was haben wir doch für Gemeinsamkeiten! Ein verdecktes Lob bekomme ich auch noch: Er meint, allen anderen Ausländern sei es zu stressig, mit ihm zu üben, weil er so streng sei. Ich fand es prima und das sage ich ihm auch. In der Nähe des Parks befindet sich ein Krankenhaus, oft sieht man Rekonvaleszente, die von ihren Verwandten im Rollstuhl durch den Park geschoben werden. Auf dem Weg zum Ausgang kommt uns eine Gruppe entgegen, die eine hutzelige uralte Oma durch die Gegend schiebt. Die Oma hält in der Hand eine brennende Kippe. Krass.

Nachmittags/ Abends:


Halte mich gar nicht lange auf und mache mich nach dem Verzehr von Brot und Nudelsuppe und einer kurzen Internet- Recherche auf die Socken. Mit Bus und Metro in die French Concession, dann laufen. Am Volksplatz werde ich fast in der Tür der Metro eingequetscht, hier ist die Hölle los. Jetzt weiß ich, warum Chinesen das Kungfu erfunden haben.
Ich will in die Taikang Lu, die wegen ihrer geringen Größe nicht im Stadtplan verzeichnet ist, aber ich weiß ungefähr, wo ich hin muss. Natürlich latsche ich erst Mal in die falsche Richtung, also umdrehen und zurück. Auf dem Stadtplan sehen die Entfernungen immer so gering aus, aber „an der Metrostation links, die zweite Querstraße rechts und dann gleich wieder links" kann schon mal schnell in einen fast einstündigen Fußmarsch ausarten. Und das bei meinem Tempo. Finde die Taikang Lu, auch hier brennt natürlich die Luft. Hand- Augen Koordinationsübungen, ich erstehe ein entzückendes Paar Stoffschuhe, etwas eng, aber die Verkäuferin meint, die würden sich noch weiten. Will das mal glauben. Für den Rückweg gönne ich mir ein Taxi, meine Füße schmerzen und ich habe keinen Bock, den ganzen Weg zur Metro wieder zurückzulaufen. Dieser kleine Ausflug war mindestens so anstrengend wie das Training heute morgen, bin fix und fertig. Zu Hause werden schnell noch Klamotten eingeweicht, dann die neuen Schuhe auf dem Weg zum Hausmannskost- Lokal eingelaufen. Diesmal bescheide ich mich mit zwei Gerichten, Auberginen mit Kartoffeln und Brokkoli mit ordentlich Knoblauch, lecker. Die Schrittfolgen werden wiederholt, läuft nicht befriedigend, morgen mehr anstrengen!

Montag, Oktober 05, 2009

Wieder versöhnt

05.10.2009, Montag


Vormittags:


Sehr angenehmes Wetter, als ich in den Park komme, ist Oskar schon da und hat mir einen Datenstick mit den Videoaufzeichnungen von neulich mitgebracht. Damit ich auch ja verstehe, was das für Schrittfolgen sind, hat er sie auch noch mit einem Stimmkommentar versehen. Eine wirklich grandiose Idee, da Oskar sowieso die korrekten chinesischen Bezeichnungen weder kennt noch aussprechen kann und einen ganz schlimmen amerikanischen Akzent hat. Allerdings finde ich es sehr anerkennenswert, dass er sich solche Mühe gegeben hat und bedanke mich recht herzlich. Xiao Lu ist natürlich nicht da, Feigling. Locke macht es sich schon mal auf einem Stein gemütlich und hat sich was zum Knabbern mitgebracht (Tee und Röstkastanien).

Heute hat der Meister seinen Joppen vergessen, geht aber auch so. Dem armen Mann geht es nicht gut, Hüfte und Bein bereiten weiter Probleme, obwohl er sich selber akupunktiert hat. Nachmittags wird er einen Arzt aufsuchen, ist wohl besser. Morgen wird er dann auch nur Mittags im Renmin Gongyuan Unterricht abhalten, ist sonst zu anstrengend für ihn. Recht so, soll er sich mal schonen. Ich weiß noch nicht, ob ich da denn hinfahre, hängt davon ab, wie sich das hier mit Xiao Lu entwickelt. Außerdem sind da denn nur westliche Kerle und dann ist mehr Dresche angesagt, fürchte ich. Nicht zu vergessen auch die chinesische Ferienmeute, da bin ich eigentlich nicht so scharf drauf. Mal sehen.

Oskar erzählt mir, er habe sich gestern massieren lassen, eigentlich auch keine schlechte Idee. Könnte ich mir heute Abend mal angedeihen lassen.

Einzelbewegungen, Schrittfolgen, Kombinationen, wegen des Hüftproblems des Meisters pausieren wir viel. Als wir die Form laufen, schaut die freundliche Dame wieder zu. Sie führt in einer Umhängetasche ein Schwert mit sich, wusste doch, dass sie vom Fach ist. Dann wird völlig überraschend Oskar aufgefordert, seine Mian Zhang Form vorzuhampeln. Er fängt zunächst mal mit der Tai Zu Quan an, wird dann aber sofort von Meister Wu unterbrochen. „Cotton Palm" übersetze ich hilfreich, weiß er nichts mit anzufangen, der Meister macht die Anfangsbewegungen vor. Oh, die zweite Form! Bin erschüttert, dass Oskar noch nicht mal weiß, was er da eigentlich ausführt. Jetzt lebt und übt der schon über vier Jahre hier in China und kann immer noch nicht ansatzweise Chinesisch. Beschämend. Aber immerhin will er ja jetzt endlich mal mit dem Erlernen dieser Sprache anfangen, sobald seine chinesische Freundin zurück ist. Er bekleckert sich bei der Form auch nicht gerade mit Ruhm, aber es ist ja auch fies, wenn man so spontan was vorführen muss, was man länger nicht mehr geübt hat. Ich muss dann auch noch ran, werde heftig korrigiert, aber dann auch vom Meister ordentlich gelobt. Oskar ist ziemlich beeindruckt und meint, ich hätte mich gegenüber letztem Jahr verbessert, aber ich wiegele ab und sage, das läge an meinen guten Lehren. Außerdem kommt mir da wahrscheinlich auch meine Figur entgegen. Und ich liebe es einfach, Formen zu laufen, das vereint alle Einzelbewegungen und Schritte, das sieht man mir wahrscheinlich auch an.

Nachmittagstraining ist unklar, der Meister wird sich drum kümmern, ich bin sehr dankbar. Mit dem halb entblößten Locke bummeln wir zum Parkeingang und beobachten unterwegs eine Tui Shou (auf Wunsch des Osters hier die chinesische Bezeichnung) übende Gruppe. Da hat Meister Wu natürlich wieder ordentlich was zu lästern, er erzählt, er habe mal mit einem Verwandten des Tui Shou Lehrers gesoffen und sogar der sei der Meinung gewesen, dass der Lehrer nix druff habe. In Shanghai sei das auch allgemein bekannt. Oh Mann, die Kampfkunstszene, ein Haufen Tratschweiber!

Nach der freundlichen Begrüßung gestern durch meine Lieblings- Nahrungszubereiterin ist heute natürlich ein Fladen fällig. Ich kapiere jetzt erst mal, dass die Mädels sich aufgeteilt haben: Die Junge mit dem etwas dickeren und üppig gefüllteren Luxusfladen steht gleich hinter der Brücke am Eingang der Fressgasse, die Ältere, Kräftige mit ihren Crepes dann ca. 20 Meter weiter. Das junge Mädel winkt fröhlich, also Luxusfladen. Mann, da hatte ich mich auch schon drauf gefreut. Während sie das Ding zubereitet, fragt sie mich, seit wann ich denn zurück wäre? Seit letzter Woche, sage ich und bin unendlich gerührt, dass sie mich trotz einjähriger Abwesendheit wiedererkannt hat. Liegt vielleicht auch an den blauen Pumphosen. Ich bin so erfreut darüber, eine meiner Lieblingsspeisen endlich mal wieder in den Händen zu halten, dass ich schon auf der Straße einen kräftigen Happen nehme. Mmmmh, lecker!

Das Zimmer ist noch nicht aufgeräumt und die Genossinnen von der Säuberungsarbeitseinheit nicht in Sicht, also schreibe ich ein paar mails und hänge ab.

Lese Yürgens und Lilos Posts aus Wudang und entnehme ihnen, dass Yürgens Chinesisch offensichtlich noch schwer zu wünschen übrig lässt, Lilo hingegen scheint jetzt auch endlich die Wichtigkeit des Übens von Anwendungen entdeckt zu haben. Ich kann nur immer wieder betonen: Leute, das ist echt wichtig, sonst versteht ihr nicht, was ihr da macht. Man muss ja nicht unbedingt kämpfen können, aber man sollte wissen, wozu die Bewegungen gut sind. Ansonsten sollte man besser Jazztanz oder so was machen.

Werde gleich mal um den Lu Xun Park laufen, die Gegend da sah mir recht interessant aus. Vielleicht entdecke ich ja noch das eine oder andere coole Geschäft und das Zimmer wird in der Zwischenzeit aufgeräumt. Falls nachmittags kein Training stattfindet, werde ich mal über eine Massage nachdenken.


Nachmittags:


Bei meinem Bummel finde ich ganz in der Nähe eine ziemlich große Apotheke, gut zu wissen. Irgendwo in dieser Straße gibt es auch ein Architekturbüro, muss ich mal näher erheben. Kaum bin ich wieder zu Hause, da kommen auch schon die Zimmerfeen. Ganz schlechtes Timing, also erkunde ich den Campus. Ich stelle fest, dass er durch den Kanal in zwei Hälften geteilt wird, auf der anderen Seite sind sehr schicke neue Gebäude und schöne Außenanlagen. Aber auch hier auf der Altbauseite gibt es einen kleinen Hain mit Bänken. Keine Nachricht vom Meister, wird jetzt auch mal Zeit, sich umzuziehen und in den Park zu fahren. Man weiß ja nie. Kein Firlefanz mit lustigen Shirts, ich schmolle noch. Als ich den Park betrete, eine Nachricht von Meister Wu: Xiao Lu ist unterwegs. Mann, der macht es aber spannend. Auf unserem Trainingsgelände hockt ein Typ mit Saxophon und dudelt vor sich hin. Leider nicht im entferntesten so gut wie die alten Knaben gestern. Normalerweise sitzt der auf dem kleinen Hügel nebendran und nervt nicht so, keine Ahnung, was den heute bewogen hat, sich ausgerechnet hier hinzusetzen. Xiao Lu kommt dann auch gleich und ich bin erst mal ziemlich patzig, meine Klamotten hänge ich demonstrativ an einen anderen Baum als er die seinen. Ich hätte gestern auf ihn gewartet, warum er denn nicht angerufen hätte? Och, er telefoniert eigentlich nicht. Knurr. Ich drücke ihm meine Visitenkarte mit Mobilfonnummer in die Flosse und sage, das sollte er sich dann mal lieber angewöhnen. Oder wenigstens dem Meister Bescheid sagen. Wäre ja nicht sauer, wenn er keine Zeit habe, aber Bescheid wüsste ich schon gerne. Beim Aufwärmen spiele ich noch ein wenig die beleidigte Leberwurst, aber dann müssen wir beide lachen und gut ist. Fahrlässigerweise hatte ich Xiao Lu alle Videoclipse mit Schrittfolgen, die ich letztes Jahr von ihm aufgenommen habe, zukommen lassen, jetzt denkt der, ich hätte die drauf und alle werden gelaufen. Und zwar tief. Seine Rache für mein Gezicke. Na gut, sei ihm gegönnt.

Der Saxophonspieler beendet seine Zigarettenpause und nimmt sein Gedudel wieder auf. Zunächst mal immer die drei gleichen Töne, dann sehr eigenwillige Interpretationen von „El Condor pasa", „Scarborough Fair" und „Yue baidao wode xin" (Der Mond steht für mein Herz, populärer Schlager). Und zwar nur immer eine Strophe dieser drei Lieder, immer wieder von vorne und vor allem saulaut. Nach nicht ganz fünfzehn Minuten bin ich so weit, dass ich dem Typen am liebsten den Hocker unter dem Hintern wegkicken und ihm sein Instrument in den Schlund stopfen würde. Ich überlege kurz, ob ich ihm Kohle geben soll, damit er abhaut, aber was willste machen, der Park ist halt für alle da und er war vor uns hier. Ich kriege von dem Getröte Kopfweh und die Konzentration ist beim Teufel, deswegen stinke ich bei den Schrittfolgen und den Teilen der Form, bei denen ich noch unsicher bin, ganz schön ab. Trotzdem kriege ich einen kurzen neuen Teil beigebracht, eine Folge von Tritten und Sprüngen. Mit zwei Posen ist Xiao Lu nicht zufrieden, muss ja alles „piaoliang" sein. Dann werden die Hände und Fäuste zurechtgezerrt und es setzt Klapse. Holla, bin überrascht, würde mich von keinem anderem Mann hauen lassen, aber gut, er darf das.

Weil der Saxophontyp uns beide nervt und nach Xiao Lus Empfinden zu viele Leute im Park unterwegs sind und uns beobachten, machen wir früher Schluss und quatschen noch ein wenig. Gestern war er auf Familienbesuch, dass er zum Mittherbstfest zur Schwiegermutter musste, war wohl nicht geplant. Ich frage ihn, ob seine Schwiegermutter ihn denn mögen würde, da muss er verlegen lachen. Na, wenn er mich hauen darf, kann ich ja wohl auch indiskrete Fragen stellen. Ja, seine Frau hat vier Schwestern, alle geschieden. Deswegen mag seine Schwiegermutter ihn, da er wohl der einzige Mann ist, der es mit einer ihrer Töchter noch aushält. Mal abwarten, vielleicht wird ja diese schöne Familientradition doch noch fortgesetzt.

Was das Training angeht: Morgen ist er da, ganz bestimmt, morgens und mittags. Auch wenn der Meister nicht da ist, ganz egal, aber ich soll bitte nicht mehr sauer sein. Ach Gott, wie könnte ich!


Abends:


Wundere mich im Bus über das erhöhte Polizeiaufgebot in der Gegend. Da ich mächtig hungrig bin, ziehe ich mich schnell um und haste zum Stadion, um Pizza zu assimilieren. Toller Plan: Heute Abend kickt Shanghai Shenhua gegen Guangzhou und am Stadion ist die Hölle los, ein Meer von blauen Trikots und Ticketverkäufern. Das erklärt auch die vielen Bullen: Nach einem Heimspiel neulich gegen Beijing (das Verhältnis zwischen Shanghai und Beijing entspricht etwa dem zwischen Mainz und Wiesbaden), das Shenhua 2:1 verlor, wurde wohl einem Beijing- Fan von den Blauen Teufeln (in etwa so was wie die Ultras in Mainz) das Jersey abgenommen und feierlich verbrannt. Der Besuch eines Spieles von Shenhua fehlt noch auf meiner Liste, heute Abend muss das aber nicht unbedingt sein.

Pizza- Hut ist brechend voll, da sich etliche Fans vor dem Spiel noch schnell stärken. Mit ordentlich Gewürz schmeckt die Käsepizza sogar. Interessant: Trotz der vorgerückten Stunde wird einem (Chinesen wie Ausländern) beim Betreten des Restaurants ein fröhliches „Good Morning" entgegengeschmettert, alles ist schon auf Halloween dekoriert und die Angestellten tragen Teufelshörner. (Das ist noch gar nichts: Im SISU Guesthouse stehen sogar schon fröhlich vor sich hinpulsierende Weihnachtsbäume. Oder vielleicht stehen die da immer noch). Nach den Essen trabe ich zum Massagesalon und entscheide mich todesmutig für eine Körpermassage. Eine ebenso interessante wie schmerzhafte Erfahrung, da sich die korpulente Masseurin auf meinen Rücken hockt und zielsicher alle kritischen Punkte ausfindig macht, was sie mir ausgiebig erläutert. Ja, der böse Lendenwirbelbereich. Und die Oberschenkel sind auch ganz schön verspannt. Klar, habe ja auch Muskelkater wie nur was, ich versuche zu erklären, warum. Weiß nicht, was anstrengender ist, die Massage oder die Konversation. Nächstes Mal dann doch lieber nur Fußmassage.

Schaue mir das Fußballspiel im Fernsehen an, das Stadion ist nur zu einem Drittel besetzt. Ganz schön schwaches Bild für eine Stadt wie Shanghai: Ins Hongkou Stadion passen 30.500 Personen, in den Bruchweg 20.300. Und der ist immer ausverkauft. Und dabei hat Shanghai mehr als zehnmal so viele Einwohner als Mainz. Es wird um eine halbe Minute zeitversetzt gesendet, höre die Menge schon toben, bevor die entsprechenden Situationen im Fernsehen gezeigt werden.

Shenhua siegt 2:1.

Sonntag, Oktober 04, 2009

Versetzt

04.10.2009, Sonntag


Vormittags:


Strahlender Sonnenschein, ich wache trotz des späten zu Bettgehens früh auf. Die mit meinem Blut vollgesogene Mücke wird im Bad gestellt und erlegt. So, jetzt ist Ruhe im Karton. Statt früh in den Park zu fahren, surfe ich ein wenig im Netz, das so früh am Morgen die interessanten Seiten wie Spiegel- online einigermaßen schnell lädt. Mit Freude stelle ich fest, das Mainz 05 Hoffenheim 3:1 besiegt hat, prächtig.

Xiao Lu ist nicht im Park, vielleicht hatte die Schwiegermutter da auch was gegen. Während ich auf einer Bank auf Meister Wu warte, schießt Locke auf mich zu und fragt mich, ob denn der Meister heute käme? Ja? Um neun? Alles klar. Bin wieder die einzige Schülerin, wir üben schön Einzelbewegungen, Locke schaut zu und macht ein paar Bewegungen mit. Nebenan ist wieder der andere Tongbei- Typ, der vom Meister sehr kritisch beäugt wird. Ich stehe mit dem Rücken zu dem Typen und kann ihn nicht sehen, gelegentlich faucht Meister Wu jedoch und macht mich auf Unzulänglichkeiten aufmerksam, die ich kritisch beobachte. Die Schrittfolgen laufen wir sehr langsam und vier Linien hintereinander, was unglaublich anstrengend ist, da ich sehr tief stehe. Der Meister sagt, solange dieser Typ anwesend sei, sollten wir mal schön die Bewegungen ohne „Fa Jin" (Freisetzen der Kraft) ausführen, der brauche ja nicht zu wissen, was wir so drauf haben. (In meinem Fall nicht viel). Schon interessant, dieses Konkurrenzdenken. Werde in den Formen korrigiert, wir pausieren viel, da des Meisters Hüfte und sein Bein nach dem Treppensturz immer noch leicht lädiert sind. Ich sage ihm, er solle sich schonen und auf seine Gesundheit achten, da muss er lachen. Einige alte Freunde gesellen sich dazu und es gibt lustige Geschichten aus der Zeit, als Meister Wu selber noch Schüler war. Wie immer werden meine Sprachkenntnisse hinterfragt und der Meister bemerkt, unser Lehrer habe mir beim Verfassen meiner chinesischen mails doch sicher geholfen. Mist, so leicht bin ich zu durchschauen!

Habe ja schon beschrieben, wie hier bei Sonnenschein und warmem Wetter die Damen mit Schirmen ihre Haut zu schützen suchen, bei den Herren ist ein anderes Verhalten zu beobachten. Die nämlich rollen dann ihre Hosenbeine hoch beziehungsweise ihre Hemden bis unter die Achselhöhlen, so dass der nackte Bauch zu sehen ist. So auch Locke, der mit uns zum Ausgang schlendert und mit dem Meister plaudert.

An der SISU will mir der blöde Wachmann im Gegensatz zu seinem Kollegen gestern das Haupttor nicht aufmachen, ich soll außen rumlaufen. Blödmann. Dafür ist der am Seiteneingang aber total freundlich, der kennt mich ja auch schon.

Mal schauen, ob Xiao Lu heute Nachmittag kommt, werde vorsichtshalber mal Mian Zhang sorgfältig wiederholen.

Stefan hat mir eine Offline- Nachricht hinterlassen, um 19:00 Treffen vor dem Starbucks am Volksplatz. Weiß zwar nicht so genau, wo da einer ist und kenne nur den im Volkspark, aber das wird sich ja wohl klären lassen. Freue mich schon, endlich mal wieder deutsch reden und über Fußball quatschen zu können. Dann werde ich auch meine letzten Geschenke los.


Nachmittags:


Auf unserem Trainingsgelände übt, von einer Hammondorgel begleitet, ein Chor. Setzte mich daher auf eine Bank nebendran und warte auf Xiao Lu. Auf der Bank neben mir sitzen zwei alte Typen mit Saxophonen und jammen, was das Zeug hält. Ja, wir sind hier in der Jazzhauptstadt Chinas. Hatte ganz vergessen, wie laut diese Instrumente sein können. Zu den Saxophonisten gesellt sich bald ein Kumpel mit Mundharmonika, der flott aufspielt.

Nach einer halben Stunde ist immer noch kein Xiao Lu da und ich schäume vor Wut. Ist ja kein Ding, wenn er mal keine Zeit oder Lust hat, aber dann soll er mich gefälligst anrufen und Bescheid sagen. Wenn der glaubt, dass meine Wut bis morgen verraucht ist, hat er sich aber mächtig getäuscht. Bin mal gespannt, ob sich der feine Herr morgen überhaupt traut, zum Vormittagstraining aufzulaufen. Meister Wu will ich mit so einem Mist jetzt nicht auch noch über Gebühr belästigen, denn der gute Mann tut sowieso außergewöhnlich viel für mich und hat außerdem seinen Bruder aus Taiwan zu Besuch. Um den Weg nicht umsonst gemacht zu haben, zahle ich 10,- RMB Eintritt und besichtige die Tiere. Die Großkatzen gibt es noch und die Gehege sind recht groß, wenn auch nicht schön oder artgerecht eingerichtet. Der Tiger liegt schlafend in der Sonne, eine Chinesin neben mir versucht zweisprachig auf englisch und chinesisch, ihn zu ein wenig Aktivität zu ermuntern, vergebens. Fahre wieder nach Hause, da ich keine Lust habe, mich mit dem Wachschergen am Haupteingang anzulegen, laufe ich gleich zum Nebeneingang. Auf dem Weg dahin kommt mir die üppigere der beiden Fladendamen entgegen, grüßt und strahlt mich an. Wow, war bis jetzt doch erst einmal dort und schon erkennt sie mich wieder! Werde da mal wieder öfters einkehren müssen. Beim Betreten des Zimmers erspähe ich eine Mücke, die sofort mit dem Handtuch ins Nirvana geschickt wird. Ich dürfte heute Nacht ruhig schlafen können.


Abends:


Nach ein wenig Rumgegammel fahre mit meinem Lieblingsbus in die Stadt, um Stefan zu treffen. Natürlich gibt es am Volksplatz jetzt zwei Starbucks, einen auf der Volksparkseite und einen auf der gegenüberliegenden. Mist. Na ja, wozu gibt es Mobiltelefone. Da ich früh dran bin, wollte ich mich eigentlich im Li Ning Laden auf der Nanjing Lu ein wenig durchshoppen, nehme aber zügig davon Abstand. Wie es scheint, ist die gesamte Shanghaier Bevölkerung auf diesen grandiosen Gedanken gekommen, an der Hauptunterführung ist der Besucherandrang sogar derartig groß, dass der Fußgängerstrom von Verkehrspolizisten geregelt wird, die mittels Megaphon die Menge dirigieren. Ist mir dann doch zu blöd, so drehe ich um und warte vor dem Starbucks am Volkspark. Ein schmächtiger junger Knabe labert mich auf englisch an und sagt, er sei sehr interessiert an Westlern. Ah ja? Ja, und ich sähe ja so typisch aus mit meinen blonden Haaren, den blauen Augen und der großen Nase. Falsche Ansage, allein dafür hätte er ein paar aufs Maul verdient. Dann lässt er eine Kaskade von Erklärungen zu seiner persönlichen Situation in einem absolut unverständlichen Englisch auf mich niederrauschen, der ich nur entnehme, seine Eltern seien arm, er arbeitslos da erst 15 Jahre alt und in China dürfe man erst ab 18 arbeiten (Blödsinn) und am Verhungern. Ja, und? Ja, ob ich denn bitte mit ihm essen gehen würde? Er würde mich auch bestimmt nicht bescheißen. Wird mir zu blöd und ich sage ihm, ich müsse jetzt gehen, drehe mich um und haue ab. Das Würstchen verfolgt mich winselnd, bis ich ihn vor den Augen der Bullen anbrülle, er solle machen, dass er Land gewinne. Was er dann auch zügig tut.

Stefan wartet dann natürlich auch mit seiner Freundin Candy vor dem Starbucks an Raffels City, aber wir finden uns doch noch. Ich werde in ein schickes Restaurant zum Essen eingeladen, wie nett. Stefan spricht ja wirklich bemerkenswert gut deutsch und ist ein ganz feiner Kerl und ich bin so froh, dass ich nach fast eineinhalb Wochen Chinesisch endlich mal wieder in meiner Muttersprache quatschen kann. Er hat jetzt einen ziemlich guten Job bei einer deutschen Firma, der ihm auch Spaß macht. Freut mich sehr für ihn. Witzigerweise stellt sich heraus, dass er ganz in der Nähe des Heping Parks und in der Nähe des Meisters wohnt. Ach, Shanghai ist ein Dorf!

Die arme Candy spricht leider weder deutsch noch besonders gut Englisch, so dass das für sie eine eher langweilige Veranstaltung ist. Ich entschuldige mich vielmals für diesen Umstand und komme mir sehr unhöflich vor, sie sagt, das wäre nicht so schlimm. Wenn Lilo und Stefanie dann da sind, werden wir noch mal zusammen weggehen und ich verspreche, dass wir uns dann auch bemühen werden, chinesisch zu reden. Die beiden müssen morgen sehr früh zu einer Hochzeit aufbrechen und deswegen früh ins Bett, das kommt mir nicht ungelegen, da ich nach der gestrigen Nacht selber Nachholbedarf an Schlaf habe. Wir verabschieden uns herzlich und verabreden, uns dann wiederzutreffen, wenn die beiden anderen Mädels da sind.

Nachricht von Lilo aus Wudang, ist gut angekommen und hatte schon gleich einen lustigen Abend, fein. Georg hat mir auch ihren Post gemailt, noch mal ganz herzlichen Dank für diesen Service!