05.10.2009, Montag
Vormittags:
Sehr angenehmes Wetter, als ich in den Park komme, ist Oskar schon da und hat mir einen Datenstick mit den Videoaufzeichnungen von neulich mitgebracht. Damit ich auch ja verstehe, was das für Schrittfolgen sind, hat er sie auch noch mit einem Stimmkommentar versehen. Eine wirklich grandiose Idee, da Oskar sowieso die korrekten chinesischen Bezeichnungen weder kennt noch aussprechen kann und einen ganz schlimmen amerikanischen Akzent hat. Allerdings finde ich es sehr anerkennenswert, dass er sich solche Mühe gegeben hat und bedanke mich recht herzlich. Xiao Lu ist natürlich nicht da, Feigling. Locke macht es sich schon mal auf einem Stein gemütlich und hat sich was zum Knabbern mitgebracht (Tee und Röstkastanien).
Heute hat der Meister seinen Joppen vergessen, geht aber auch so. Dem armen Mann geht es nicht gut, Hüfte und Bein bereiten weiter Probleme, obwohl er sich selber akupunktiert hat. Nachmittags wird er einen Arzt aufsuchen, ist wohl besser. Morgen wird er dann auch nur Mittags im Renmin Gongyuan Unterricht abhalten, ist sonst zu anstrengend für ihn. Recht so, soll er sich mal schonen. Ich weiß noch nicht, ob ich da denn hinfahre, hängt davon ab, wie sich das hier mit Xiao Lu entwickelt. Außerdem sind da denn nur westliche Kerle und dann ist mehr Dresche angesagt, fürchte ich. Nicht zu vergessen auch die chinesische Ferienmeute, da bin ich eigentlich nicht so scharf drauf. Mal sehen.
Oskar erzählt mir, er habe sich gestern massieren lassen, eigentlich auch keine schlechte Idee. Könnte ich mir heute Abend mal angedeihen lassen.
Einzelbewegungen, Schrittfolgen, Kombinationen, wegen des Hüftproblems des Meisters pausieren wir viel. Als wir die Form laufen, schaut die freundliche Dame wieder zu. Sie führt in einer Umhängetasche ein Schwert mit sich, wusste doch, dass sie vom Fach ist. Dann wird völlig überraschend Oskar aufgefordert, seine Mian Zhang Form vorzuhampeln. Er fängt zunächst mal mit der Tai Zu Quan an, wird dann aber sofort von Meister Wu unterbrochen. „Cotton Palm" übersetze ich hilfreich, weiß er nichts mit anzufangen, der Meister macht die Anfangsbewegungen vor. Oh, die zweite Form! Bin erschüttert, dass Oskar noch nicht mal weiß, was er da eigentlich ausführt. Jetzt lebt und übt der schon über vier Jahre hier in China und kann immer noch nicht ansatzweise Chinesisch. Beschämend. Aber immerhin will er ja jetzt endlich mal mit dem Erlernen dieser Sprache anfangen, sobald seine chinesische Freundin zurück ist. Er bekleckert sich bei der Form auch nicht gerade mit Ruhm, aber es ist ja auch fies, wenn man so spontan was vorführen muss, was man länger nicht mehr geübt hat. Ich muss dann auch noch ran, werde heftig korrigiert, aber dann auch vom Meister ordentlich gelobt. Oskar ist ziemlich beeindruckt und meint, ich hätte mich gegenüber letztem Jahr verbessert, aber ich wiegele ab und sage, das läge an meinen guten Lehren. Außerdem kommt mir da wahrscheinlich auch meine Figur entgegen. Und ich liebe es einfach, Formen zu laufen, das vereint alle Einzelbewegungen und Schritte, das sieht man mir wahrscheinlich auch an.
Nachmittagstraining ist unklar, der Meister wird sich drum kümmern, ich bin sehr dankbar. Mit dem halb entblößten Locke bummeln wir zum Parkeingang und beobachten unterwegs eine Tui Shou (auf Wunsch des Osters hier die chinesische Bezeichnung) übende Gruppe. Da hat Meister Wu natürlich wieder ordentlich was zu lästern, er erzählt, er habe mal mit einem Verwandten des Tui Shou Lehrers gesoffen und sogar der sei der Meinung gewesen, dass der Lehrer nix druff habe. In Shanghai sei das auch allgemein bekannt. Oh Mann, die Kampfkunstszene, ein Haufen Tratschweiber!
Nach der freundlichen Begrüßung gestern durch meine Lieblings- Nahrungszubereiterin ist heute natürlich ein Fladen fällig. Ich kapiere jetzt erst mal, dass die Mädels sich aufgeteilt haben: Die Junge mit dem etwas dickeren und üppig gefüllteren Luxusfladen steht gleich hinter der Brücke am Eingang der Fressgasse, die Ältere, Kräftige mit ihren Crepes dann ca. 20 Meter weiter. Das junge Mädel winkt fröhlich, also Luxusfladen. Mann, da hatte ich mich auch schon drauf gefreut. Während sie das Ding zubereitet, fragt sie mich, seit wann ich denn zurück wäre? Seit letzter Woche, sage ich und bin unendlich gerührt, dass sie mich trotz einjähriger Abwesendheit wiedererkannt hat. Liegt vielleicht auch an den blauen Pumphosen. Ich bin so erfreut darüber, eine meiner Lieblingsspeisen endlich mal wieder in den Händen zu halten, dass ich schon auf der Straße einen kräftigen Happen nehme. Mmmmh, lecker!
Das Zimmer ist noch nicht aufgeräumt und die Genossinnen von der Säuberungsarbeitseinheit nicht in Sicht, also schreibe ich ein paar mails und hänge ab.
Lese Yürgens und Lilos Posts aus Wudang und entnehme ihnen, dass Yürgens Chinesisch offensichtlich noch schwer zu wünschen übrig lässt, Lilo hingegen scheint jetzt auch endlich die Wichtigkeit des Übens von Anwendungen entdeckt zu haben. Ich kann nur immer wieder betonen: Leute, das ist echt wichtig, sonst versteht ihr nicht, was ihr da macht. Man muss ja nicht unbedingt kämpfen können, aber man sollte wissen, wozu die Bewegungen gut sind. Ansonsten sollte man besser Jazztanz oder so was machen.
Werde gleich mal um den Lu Xun Park laufen, die Gegend da sah mir recht interessant aus. Vielleicht entdecke ich ja noch das eine oder andere coole Geschäft und das Zimmer wird in der Zwischenzeit aufgeräumt. Falls nachmittags kein Training stattfindet, werde ich mal über eine Massage nachdenken.
Nachmittags:
Bei meinem Bummel finde ich ganz in der Nähe eine ziemlich große Apotheke, gut zu wissen. Irgendwo in dieser Straße gibt es auch ein Architekturbüro, muss ich mal näher erheben. Kaum bin ich wieder zu Hause, da kommen auch schon die Zimmerfeen. Ganz schlechtes Timing, also erkunde ich den Campus. Ich stelle fest, dass er durch den Kanal in zwei Hälften geteilt wird, auf der anderen Seite sind sehr schicke neue Gebäude und schöne Außenanlagen. Aber auch hier auf der Altbauseite gibt es einen kleinen Hain mit Bänken. Keine Nachricht vom Meister, wird jetzt auch mal Zeit, sich umzuziehen und in den Park zu fahren. Man weiß ja nie. Kein Firlefanz mit lustigen Shirts, ich schmolle noch. Als ich den Park betrete, eine Nachricht von Meister Wu: Xiao Lu ist unterwegs. Mann, der macht es aber spannend. Auf unserem Trainingsgelände hockt ein Typ mit Saxophon und dudelt vor sich hin. Leider nicht im entferntesten so gut wie die alten Knaben gestern. Normalerweise sitzt der auf dem kleinen Hügel nebendran und nervt nicht so, keine Ahnung, was den heute bewogen hat, sich ausgerechnet hier hinzusetzen. Xiao Lu kommt dann auch gleich und ich bin erst mal ziemlich patzig, meine Klamotten hänge ich demonstrativ an einen anderen Baum als er die seinen. Ich hätte gestern auf ihn gewartet, warum er denn nicht angerufen hätte? Och, er telefoniert eigentlich nicht. Knurr. Ich drücke ihm meine Visitenkarte mit Mobilfonnummer in die Flosse und sage, das sollte er sich dann mal lieber angewöhnen. Oder wenigstens dem Meister Bescheid sagen. Wäre ja nicht sauer, wenn er keine Zeit habe, aber Bescheid wüsste ich schon gerne. Beim Aufwärmen spiele ich noch ein wenig die beleidigte Leberwurst, aber dann müssen wir beide lachen und gut ist. Fahrlässigerweise hatte ich Xiao Lu alle Videoclipse mit Schrittfolgen, die ich letztes Jahr von ihm aufgenommen habe, zukommen lassen, jetzt denkt der, ich hätte die drauf und alle werden gelaufen. Und zwar tief. Seine Rache für mein Gezicke. Na gut, sei ihm gegönnt.
Der Saxophonspieler beendet seine Zigarettenpause und nimmt sein Gedudel wieder auf. Zunächst mal immer die drei gleichen Töne, dann sehr eigenwillige Interpretationen von „El Condor pasa", „Scarborough Fair" und „Yue baidao wode xin" (Der Mond steht für mein Herz, populärer Schlager). Und zwar nur immer eine Strophe dieser drei Lieder, immer wieder von vorne und vor allem saulaut. Nach nicht ganz fünfzehn Minuten bin ich so weit, dass ich dem Typen am liebsten den Hocker unter dem Hintern wegkicken und ihm sein Instrument in den Schlund stopfen würde. Ich überlege kurz, ob ich ihm Kohle geben soll, damit er abhaut, aber was willste machen, der Park ist halt für alle da und er war vor uns hier. Ich kriege von dem Getröte Kopfweh und die Konzentration ist beim Teufel, deswegen stinke ich bei den Schrittfolgen und den Teilen der Form, bei denen ich noch unsicher bin, ganz schön ab. Trotzdem kriege ich einen kurzen neuen Teil beigebracht, eine Folge von Tritten und Sprüngen. Mit zwei Posen ist Xiao Lu nicht zufrieden, muss ja alles „piaoliang" sein. Dann werden die Hände und Fäuste zurechtgezerrt und es setzt Klapse. Holla, bin überrascht, würde mich von keinem anderem Mann hauen lassen, aber gut, er darf das.
Weil der Saxophontyp uns beide nervt und nach Xiao Lus Empfinden zu viele Leute im Park unterwegs sind und uns beobachten, machen wir früher Schluss und quatschen noch ein wenig. Gestern war er auf Familienbesuch, dass er zum Mittherbstfest zur Schwiegermutter musste, war wohl nicht geplant. Ich frage ihn, ob seine Schwiegermutter ihn denn mögen würde, da muss er verlegen lachen. Na, wenn er mich hauen darf, kann ich ja wohl auch indiskrete Fragen stellen. Ja, seine Frau hat vier Schwestern, alle geschieden. Deswegen mag seine Schwiegermutter ihn, da er wohl der einzige Mann ist, der es mit einer ihrer Töchter noch aushält. Mal abwarten, vielleicht wird ja diese schöne Familientradition doch noch fortgesetzt.
Was das Training angeht: Morgen ist er da, ganz bestimmt, morgens und mittags. Auch wenn der Meister nicht da ist, ganz egal, aber ich soll bitte nicht mehr sauer sein. Ach Gott, wie könnte ich!
Abends:
Wundere mich im Bus über das erhöhte Polizeiaufgebot in der Gegend. Da ich mächtig hungrig bin, ziehe ich mich schnell um und haste zum Stadion, um Pizza zu assimilieren. Toller Plan: Heute Abend kickt Shanghai Shenhua gegen Guangzhou und am Stadion ist die Hölle los, ein Meer von blauen Trikots und Ticketverkäufern. Das erklärt auch die vielen Bullen: Nach einem Heimspiel neulich gegen Beijing (das Verhältnis zwischen Shanghai und Beijing entspricht etwa dem zwischen Mainz und Wiesbaden), das Shenhua 2:1 verlor, wurde wohl einem Beijing- Fan von den Blauen Teufeln (in etwa so was wie die Ultras in Mainz) das Jersey abgenommen und feierlich verbrannt. Der Besuch eines Spieles von Shenhua fehlt noch auf meiner Liste, heute Abend muss das aber nicht unbedingt sein.
Pizza- Hut ist brechend voll, da sich etliche Fans vor dem Spiel noch schnell stärken. Mit ordentlich Gewürz schmeckt die Käsepizza sogar. Interessant: Trotz der vorgerückten Stunde wird einem (Chinesen wie Ausländern) beim Betreten des Restaurants ein fröhliches „Good Morning" entgegengeschmettert, alles ist schon auf Halloween dekoriert und die Angestellten tragen Teufelshörner. (Das ist noch gar nichts: Im SISU Guesthouse stehen sogar schon fröhlich vor sich hinpulsierende Weihnachtsbäume. Oder vielleicht stehen die da immer noch). Nach den Essen trabe ich zum Massagesalon und entscheide mich todesmutig für eine Körpermassage. Eine ebenso interessante wie schmerzhafte Erfahrung, da sich die korpulente Masseurin auf meinen Rücken hockt und zielsicher alle kritischen Punkte ausfindig macht, was sie mir ausgiebig erläutert. Ja, der böse Lendenwirbelbereich. Und die Oberschenkel sind auch ganz schön verspannt. Klar, habe ja auch Muskelkater wie nur was, ich versuche zu erklären, warum. Weiß nicht, was anstrengender ist, die Massage oder die Konversation. Nächstes Mal dann doch lieber nur Fußmassage.
Schaue mir das Fußballspiel im Fernsehen an, das Stadion ist nur zu einem Drittel besetzt. Ganz schön schwaches Bild für eine Stadt wie Shanghai: Ins Hongkou Stadion passen 30.500 Personen, in den Bruchweg 20.300. Und der ist immer ausverkauft. Und dabei hat Shanghai mehr als zehnmal so viele Einwohner als Mainz. Es wird um eine halbe Minute zeitversetzt gesendet, höre die Menge schon toben, bevor die entsprechenden Situationen im Fernsehen gezeigt werden.
Shenhua siegt 2:1.
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