Freitag, Oktober 23, 2009

Wieder alleine

23.10.2009, Freitag

Habe eben Stefanie und Lilo in den Flughafenbus gesetzt, schon ein komisches Gefühl, denn ich hätte ja normalerweise auch auf diesem Flieger sein sollen. Die letzten zehn Tage waren ereignisreich, als der Bus mit den beiden dann auf meinem Rückweg ins SISU an mir vorbeifuhr, erwischte ich mich dabei, dass ich laut „Ach Mensch, Mädels!" sagte und mir eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Was hatten wir uns nicht alles ausgemalt, was wir machen wollten, jetzt musste ich arbeiten. Ist aber trotzdem genug passiert, jetzt mal hübsch der Reihe nach:
Letzte Woche Dienstag kam Stefanie hier an, der erste Abend wurde natürlich gleich mal traditionell mit einer feierlichen Maximalausnutzung der Happy Hour im Barbarossas begangen. War etwas unfit auf der Arbeit am nächsten Tag, aber egal. Da ich ja nun keine Zeit hatte, mit ihr um die Häuser zu ziehen, hat sich Stefanie dann entschlossen, auch ein etwas intensiveres Trainingsprogramm zu absolvieren. Netterweise hat Xiao Lu sie nachmittags unterrichtet. Freitags endlich hat sie mich von der Arbeit abgeholt und wir haben im Garten von Sashas einen geschmeidigen Abend verbracht und die beste Pizza Shanghais genossen. Chinesisches Essen ist ja echt lecker, aber ab und an was Westliches ist auch nicht schlecht.
Samstag wollten wir eigentlich gemeinsam üben, aber kurzfristig hatte Wujie Zeit für sie, was sie dann natürlich wahrgenommen hat. Also bin ich alleine in den Park getrabt, wo dann auch außer mir nur noch Xiao Xu zum Training erschien. Der hatte auch gleich zum Zuschauen seine Mutti und drei männliche Familienmitglieder unklarer Zuordnung mitgebracht. Geile Sache: Alle vier saßen kettenrauchend am Rand und kommentierten hämisch die unzureichende Trainingsleistung des Sprösslings, vor allem beim Formlaufen. Mutti hatte knallrote, spitz zugefeilte Zehnägel, ständig eine Kippe im Maul und war üppig mit Gold behangen, einer der Knaben benutzte die Zigarettenpausen ständig dazu, Xiao Xu von hinten in die Kniekehlen zu treten. Aber mir wurden sofort ein Getränk und ordentlich Kippen in die Hand gedrückt. Nettes Volk. Da Xiao Xus Pappi wohl ordentlich Kohle hat und den Meister gut bezahlt, legte der sich natürlich besonders ins Zeug. Alle durften mal hauen und wurden gehauen, großer Spaß bei allen Beteiligten. Das Bild, wie Meister Wu noch beim Umziehen mit einer Kippe in der einen und seinen Jeans in der anderen Hand in Unterhosen doziert, hat sich unauslöschlich in mein Gehirn eingebrannt.
Nach dem Training bin ich zur Ausländerbehörde nach Pudong gefahren, um den Pass abzuholen und kam auf dem Weg zur Metro durch eine Strasse, in der wohl mittags immer ein Markt stattfindet. Kannte die noch von früher, aber da war da weniger los. Richtig klasse, altes und ursprüngliches Shanghai. Kurioseste Marktbesucherin: Eine Dame mit hohen Hacken und feiner Kleidung, die rauchend einen Rehpinscher ausführte und die Haare in Lockenwickler gedreht hatte.
Nachmittags trafen Stefanie und ich uns im Volkspark zum traditionellen Kaffe bei Starbucks und anschließendem Essen im Vegetarian Lifestyle. Fußmassage war auch noch drin (Stefanie hat da einen nicht üblen Laden aufgetan). Derartig gestärkt konnten wir uns unserer neben dem Üben anderen Lieblingsbeschäftigung hingeben: Dem Shoppen. Auf der Suche nach einem Musikaliengeschäft stolperten wir durch eine Gasse mit Massage- und Nagelstudiobedarf, wo wir natürlich in die Falle gingen. Ein Laden hatte Nagellacke in allen Farben des Spektrums sowie alles, was man zur Verlängerung und Pflege von Klauen so braucht. Keine von uns beiden lackiert sich außer zu Fastnacht die Fingernägel, aber wir konnten einfach nicht wiederstehen. Wo findet man bei uns schon pinkfarbenen Glitzerlack mit Diamantsplittern! Sieht im Sommer auf den Fußnägeln bestimmt bombig aus. Den Musikalienladen haben wir dann auch noch gefunden und jede eine hübsche Bambusquerflöte erstanden. Der Erwerb völlig nutzloser und unvorhergesehener Dinge (Don't buy shit!) musste natürlich bei Barbarossas wieder ausgiebig gefeiert werden.
Nach der überraschend zügigen Abarbeitung unseres Shoppingprogramms haben wir uns dann Sonntag das volle Vor- und Nachmittagstrainingsprogramm gegönnt, sehr fein.
Diese Woche Dienstag kam dann auch Lilo mit leicht lädiertem Magen aus Wudang, was sie aber nicht davon abgehalten hat, bei Barbarossas ein paar Getränke zu sich zu nehmen. Wir schreiben fast Vereinsgeschichte: Erste Vorstandssitzung auf chinesischen Boden. Leider fehlt Stefan, aber auf den trinken wir einen.
Mittwoch hat Meister Wu zum Essen geladen, sollte erst bei ihm zu Hause stattfinden, wird dann aber überraschend verlegt, da wir dann doch zu viele Leute sind. Die Mädels dürfen seine neue Bude gebührend bewundern, ich hetze direkt in Richtung Hongkou (Stadtteil) und werde unterwegs instruiert, am Park zu warten.
Und das wird dann mal wieder richtig klasse: Außer uns sind noch Rose und etliche chinesische Schüler des Meisters da, insgesamt knapp 17 Personen. Als erstes wird eine Literflasche Johnnie Walker auf den Tisch geknallt, uns werden die Ehrenplätze zugewiesen. Dann wird eine Speise nach der anderen geliefert, ich glaube, alles, was das Restaurant zu bieten hat und auch der Alkohol fließt in Strömen. Das lustige Männlein ist auch da und läuft schon bald wieder zur Höchstform auf. Die vermeintliche Gemahlin des Männleins entpuppt sich als Meister Wus Exgattin, irgendwie haben die beiden sich wohl wieder zusammengerauft. Wie schön. Das Männlein singt ein Lied nach dem anderen und rennt ständig um den Tisch, um Lilo und mir Kippen zuzustecken, uns Speisen in die Essschalen vorzulegen und Bier nachzuschenken. Irgendwann werden wir dann auch aufgefordert, eine deutsche Weise zum besten zu geben und bekommen nach anfänglichen Panikattacken unter Stefanies Dirigat „Theo, spann den Wagen an" sogar als Kanon hin. Der Meister ist der Meinung, es sei jetzt zwar schon ordentlich gesoffen und gegessen worden, aber um den Abend perfekt zu machen, müsse noch mehr gesoffen und gegessen werden. Woraufhin weitere Speisen und Getränke aufgetragen werden. Das Männlein bringt einen Trinkspruch nach dem anderen und hat schon Ärmel und Hosenbeine hochgerollt, irgendwann schaffe ich es auch mal, „Women ai Zhongguo (Wir lieben China)" zu brüllen, was von der Tafelrunde beifällig quittiert wird. Die Stimmung erreicht den Siedepunkt, als die Herren ihre Tongbei- Fähigkeiten aneinander demonstrieren, wobei sich das Männlein besonders hervortut. Wir rechnen ständig damit, dass entweder die Innenausstattung, die Verglasung oder das Männlein zu Schaden kommen, aber wie durch ein Wunder passiert nichts dergleichen. Neben mir sitzt Jeremy (seinen chinesischen Namen weiß ich nicht), den ich noch von früher kenne und den ich diskret nach dem Namen des Männleins frage. Der weiß den auch nicht und brüllt in die Runde, das Männlein heißt Zhou (oder Zhu) Wan irgendwas und fragt nach einem englischen Namen für sich. Habe da was falsch verstanden (dachte, man fragt mich nach einer Übersetzung) und sage spontan „Monkey", ab jetzt nennt er sich nur noch so. Das Männlein und alle anderen sind begeistert. Hastig erkläre ich Jeremy, dass Männlein erinnere mich an Sun Wu Kong (für die Westler: Monkey King) aus der „Reise nach Westen" (chinesischer Klassiker), jetzt punkte ich auch noch mit meiner vermeintlichen Bildung. Irgendwann ist dann auch endlich mal genug gesoffen und gefressen worden, Gruppenfotos werden geschossen und das war es dann. Geiler Abend, Chinesen rocken.
Donnerstag bin ich immer noch so vollgefressen, dass ich nichts frühstücken kann und auch auf der Arbeit nicht ganz online. Schaffe es aber trotzdem, Details für eine Wandverkleidung aus gefalteten Cortenstahlblechen zu entwickeln, bin nicht unzufrieden. Abends besucht Lilo ihre Freundin Victoria und Stefanie du ich treffen uns mit Wujie und Meister Wu in der Stadt zum Essen. Wird ein lustiger Abend und eine Theoriestunde außerdem. Wujie meint, er habe mich 2007 im Chinacamp beobachtet, habe ja alles sehr hübsch ausgesehen, aber jetzt müsse ich mal mit meinen inneren Kräften arbeiten. Klar, versuche ich ja, wozu bin ich denn hier. Immerhin ist er zufrieden, dass ich das Prinzip anscheinend begriffen und das auch hinreichend auf Chinesisch darlegen kann, auch Meister Wu brummt zustimmend. Der Meister erzählt noch ein paar wüste Geschichten, unter anderem, wieso er keine Chinesinnen unterrichtet, aber das würde jetzt hier den Rahmen sprengen.
Heute erledigen die Mädels noch diverse Einkäufe, gönnen sich eine Trainingseinheit und ich fetze auf der Arbeit Details raus, dass es nur so kracht. Als sich um halb sieben der erste Kollege trollt, schließe ich mich gerührt an, hetzte nach Hause und erwische Lilo und Stefanie auf dem Weg zum Flughafenbus und das war es dann.
Seit zehn Tagen mal wieder der erste Abend, den ich zu Hause und alleine verbringe. In diesen Minuten dürfte der Flieger in Richtung Frankfurt starten, draußen blinken die Wolkenkratzer und ich bin noch hier.

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