02.10.2009, Freitag
Vormittags:
Es regnet nicht und durch den Dunst dringen sogar Sonnenstrahlen. Lilo sollte in diesen Minuten hier landen, hoffentlich kommt sie im allgemeinen Ferienverkehr gut nach Wudang weiter. Ich bin sehr früh dran, wenig Verkehr auf der Straße und der Bus ist angenehm leer. Leider ist Xiao Lu nicht da, gestern wohl zu heftig gefeiert oder er hat keine Lust, sich die weißen Leinenschühchen im Modder des Trainingsgeländes schmutzig zu machen. Bin mal wieder die einzige Übende, so komme ich wieder in den Genuss einer Einzelstunde bei Meister Wu Mao Gui, wie wunderbar! Lockenköpfchen gesellt sich auch noch zu uns, beschränkt sich aber vornehmlich auf das Beobachten. Mir werden wieder schön die Bezeichnungen der Bewegungen aufgeschrieben und es stellt sich heraus, dass ein flacher Handkantenschlag an den Hals meine absolute Paradedisziplin ist. Lihai! Der Lockenkopf darf wieder als Prügelknabe und Negativbeispiel (er benutzt Kraft, nicht seinen Körper) herhalten, was ihn aber nicht weiter stört. Ich lerne, dass nicht Kraft, sondern Können den Menschen schlägt. (力不打人,功打人。) Diesen Satz werde ich mir hinter die Ohren schreiben. Ein großgewachsener Herr in einem blauen Hemd lauscht interessiert den Ausführungen des Meisters, wenig später stehen dann auch noch zwei krötige Knaben in rosa Shirts andächtig am Rande. Ein Bild für die Götter, hätte ich am liebsten fotografiert. Als ich mir was notiere, schießen die Kröten sogleich herbei um mir über die Schulter zu schauen und rätseln über meine Niederschriften. Das sei deutsch, erklärt der Meister, die Kröten sind beeindruckt. Immerhin kann einer sich sinnvoll bei dem Erraten der richtigen Pinyin- Umschrift einbringen, die dürfen also weiter zuschauen. Schrittfolgen werden geübt, mittlerweile haben wir ein ganz ordentliches Publikum. Ist ja auch wesentlich interessanter, im Park bei Sonnenschein Ausländern dabei zuzusehen, wie sie sich blamieren als im Staatsfernsehen dauernd Militärparaden anzugucken. Nach einer Weile wird das langweilig, und die Menge zerstreut sich.
Nebenan übt ein anderer Typ auch Tongbei- Einzelbewegungen und das ist nun wirklich interessant. Der Meister erklärt mir, sein Meister und der Meister des anderen Typen hätten beide zusammen gelernt (das bezeichnet man hier als „Tongbei- Brüder"), aber dann völlig unterschiedliche Wege eingeschlagen. Er macht mich auf die unterschiedlichen Ausführungen der Bewegungen hin und ich bin beeindruckt. Bei uns hat das wesentlich mehr Schmackes und die Bewegungen sind kraftvoll und präzise, bei dem Typen sieht das ziemlich lasch aus. Eine freundliche, hübsche und schlankgliedrige Dame in den Fünfzigern schaut zu und stellt Fragen, ihr wird der korrekte Schnitt unseres Fummels erklärt. Sie scheint mir Sachkunde zu besitzen, denn sie trägt Trainingshosen und –schuhe und wirkt sehr geschmeidig. Lockenköpfchen ist des Englischen ein wenig mächtig und kriegt von mir auf Chinesisch den Unterschied zwischen „Who are you?" und „How are you?" beigebogen. Bei der Gelegenheit kriege ich raus, dass er Yue Irgendwas heißt. Die freundliche Dame ist beeindruckt, dass ich mich grob auf Chinesisch verständigen kann, mittlerweile klappt das auch mit dem Verstehen besser. Der Meister meint, mir sähe man ja wenigstens an, dass ich regelmäßig üben würde, Lockenkopf Yue aber sei faul und deswegen eine Pfeife. Ich wiegele ab, Locke Yue lacht. Mian Zhang wird von Meister Wu heftig korrigiert, ich bin begeistert und wiederhole, als gäbe es kein Morgen. Interessant, er korrigiert ganz andere Sachen als Xiao Lu. Naja, die beiden haben ja auch eine völlig andere Statur, Xiao Lu ist groß, schlank und elegant, der Meister bullig und eine Kampfmaschine. Schließlich meint er, jetzt ginge es langsam gerade so eben, ich sei da wie Michael. Der habe auch lange gekämpft und seine Dummheit verflucht.
Zum Schluss noch ein wenig Push Hands, die freundliche Dame darf auch mitmachen und lacht fröhlich, als sie durch die Gegend geschleudert wird. Als wir uns umziehen, komme ich endlich auch mal dazu, Kippen an alle zu verteilen. Ein älterer Bekannter des Meisters schlurft schmauchend herbei (ich glaube, bis auf Xiao Lu und unseren Lehrer Zhu raucht jeder chinesische Mann, den ich kenne), der mich in ein Gespräch über diverse Fremdsprachen verwickelt und der Meinung ist, Deutsch sei schwer zu lernen. Ach was! Meister Wu kann noch die wichtigsten Grundbegriffe (Essen, Schlafen, Weizenbier, Danke) und wird von mir heftig gelobt. Ich werde gefragt, ob wir denn in Deutschland einen Lehrer hätten und schinde Eindruck mit der Tatsache, dass der aus Shanghai ist.
Als wir zum Parkausgang schlendern, lädt mich Meister Wu zum morgigen Mittherbstfest ein, 17.00 am Parkeingang, dann irgendwie zu ihm nach Hause. Ich freue mich sehr über die Einladung und nehme dankend an, der Meister erklärt mir die Bedeutung dieses Festes und wie gefeiert wird (natürlich mit üppigem Essen). Oha, jetzt bin ich aber in Verlegenheit: Ich weiß, dass man da Mondkuchen verschenkt, wo kriege ich die bloß her? Will ja auch keinen abgepackten Mist, sondern leckere einkaufen, wie viele verschenkt man denn üblicherweise? Da muss ich mich dringend noch mal kundig machen, zur Not gibt es halt Kippen und guten Schnaps. Hoffentlich hat der Schnapsladen um die Ecke über die Feiertage auf.
Im Bus unterhalte ich mich mit einem sehr netten Äthiopier, der hier Wirtschaftswissenschaften studiert. Freundlicher Mensch, er meint, Shanghai sei gegen sein Drittweltland (den Ausdruck benutzt er, nicht ich) voll der Kulturschock gewesen. Glaube ich gerne.
Nachmittags/ Abends:
Mein Zimmer ist aufgeräumt, auch das kleine Malheur mit der Toilette wurde beseitigt. Gereinigt wurde sie jedoch nicht, egal, ich empfange hier ja keinen Besuch. Heute Mittag schmeckt dann auch die Nudelsuppe wieder, von irgendwo her dringt laute Musik und im Zimmer neben mir grölt die chinesische Reisegruppe. Ich tippe des Meisters Aufzeichnungen ab und versuche, ein wenig im Netz zu surfen. Gehe mal davon aus, dass Xiao Lu mich mittags bespielt, wenn nicht, schaue ich mir halt das neue Tiergehege im Park an, da kam ich letztes Jahr nicht zu. Angeblich soll es da auch Tiger geben. Früher wurden hier unter anderem ein Löwenpaar, ein Tiger, ein Leopard und ein Bär unter unwürdigen Verhältnissen gehalten, abends konnte man die großen Katzen dann immer brüllen hören, wenn sie weggesperrt wurden. Jetzt ist das nicht mehr so, entweder sind die Tiere jetzt besser untergebracht oder in eine bessere Welt eingetreten. Auf dem Campus ist es angenehm ruhig, Geschäfte und Mensa geschlossen, richtig beschaulich.
Zu Ehren der hart arbeitenden chinesischen Bevölkerung und der Volksrepublik lege ich ein T- Shirt an, auf dem „ I- The working class" steht. Glaube aber nicht, dass jemand diese feine Ironie zu würdigen weiß. Zur Vorsicht schaue ich dann doch mal im Wörterbuch nach, was „Feier", „Nationaltag" und „Arbeiterklasse" auf chinesisch heißt, man kann ja nie wissen.
Auf dem Weg zum Park erspähe ich an einem Geschäft ein handgeschriebenes Schild, auf dem „Star Trek" in Englisch und Chinesisch steht. Cool. Was das wohl sein mag? Die Zentrale der Shanghaier Trekkies? Werde der Sache mal auf den Grund gehen müssen.
Xiao Lu kommt pünktlich und wir wiederholen das böse Arm- und Faustgewirbel aus der Form, zunächst als Einzelbewegung. Meine Güte, ist das kompliziert! Aber es sieht ziemlich cool aus, auch wenn ich sehr lange brauche, um es hinzukriegen. Ich bin richtig wütend über meine Beschränktheit und kreise mit den Armen, bis sich mir im Kopf auch alles dreht. So nett und sachte Xiao Lu sonst auch ist, als Lehrer kann er ganz schön unerbittlich sein. Immer, wenn ich was vermassele, erfolgt wütendes Gebrüll aus dem Hintergrund, das Wort „piaoliang" höre ich heute eher selten. Ich solle locker und sanft wie eine Katze, nicht mit Kraft wie ein Tiger zuhauen. Aber Tiger sind doch auch nur Katzen, wenn auch große? Na gut, stimmt auch wieder.
Xiao Lu hat schwarze Übungshosen an, wie ich neidisch feststelle, die finde ich viel schicker als die blauen. Echt? Findet er nicht, blau sei viel hübscher. Ob ich denn nur dieses eine Paar hätte? Logo, hat er mir doch letztes Jahr geschenkt. Oh, dann müsse ich mir welche machen lassen. Toll, wo denn bitteschön? Er wird sich drum kümmern. Auch das Mondkuchenproblem wird angesprochen, er meint, eine Packung mit anständigen würde so 100,- RMB kosten. Aber er besorgt welche. (Habe vom Bus aus neben dem Schnapsladen ein Süßwarengeschäft gesehen, vielleicht hole ich dann auch noch welche, will ja nicht mit leeren Händen kommen). Schrittfolgen werden auch geübt, er will mir möglichst viele beibringen. Genau das will ich nicht, ich erkläre ihm, dass ich lieber weniger, dafür aber sorgfältig lernen wolle, ich könne mir das sowieso nicht alles merken. Das leuchtet ihm dann auch ein und ich jammere ihm vor, wie frustrierend es sei, in Deutschland ohne Lehrer und allein zu üben. Sicher, immerhin habe ich ja auch noch Stefanie, aber in diesem Fall bin ich die Einäugige unter den Blinden. Das versteht er auch. Seine Säbelform und Einzelbewegungen daraus demonstriert er auf mein Verlangen hin, sehr elegant! Naja, eines Tages lerne ich das auch noch. Er führt das ganze in ultratiefen Ständen aus, meiner Meinung nach sehr flott und geschmeidig. Nein, nein, nicht mehr so schön wie früher, er sei alt geworden. (Das sagt er in letzter Zeit ständig, dafür verpasse ich ihm dann auch jedes Mal eine und widerspreche energisch).
Beim Verlassen des Parks unterhalten wir uns über Katzen, er habe gehört, die deutschen Katzen seien so riesig. Ach ja? Wer ihm das denn erzählt habe? Na, Meister Wu, der hat das mit eigenen Augen gesehen. Ich kenne ja des Meisters Neigung zu blumigen Ausschmückungen und Übertreibungen, aber dann fällt bei mir der Groschen: Er war ja auch bei Lilo zu Hause und hat da ihre vierbeinigen Hausgenossen gesehen. Ja, jetzt wird mir einiges klar. Das erkläre ich Xiao Lu und erläutere die Namen der Katzen, das findet er total witzig. Ich glaube, er ist jetzt schon ein glühender Bewunderer Lilos.
Ich habe Hunger und wahnsinnigen Appetit auf chinesisches Essen, ziehe mich hastig um, stopfe Oberinspektor Chens fünften Fall in die Tasche und eile hurtig in die Fressgasse. Fast keine Geschäfte offen, hoffentlich wenigstens das Lokal, in dem wir letztes Jahr so gerne diniert haben. Zum Glück ist das geöffnet und ist auch rappelvoll, was für die Qualität der Speisen spricht. Gierig ordere ich chinesische Fritten, Rührei mit Tomate und die phänomenalen Auberginen mit Kartoffeln in der dicken Sauce. Hatte ganz vergessen, wie riesig die Portionen sind, schaffe aber die Auberginen komplett und das Rührei zum größten Teil. Die Fritten sind nicht ganz so lecker, da mit irgendetwas Seltsamem paniert. Für diesen üppigen und köstlichen Schmaus zahle ich ganze 39,- RMB inklusive Bier.
Im Hongkou- Stadium findet ein Rockkonzert statt, kann die frenetisch jubelnde Menge bis hierher hören. Die Musik ist auch nicht übel, werde gleich mal erheben, was für eine Gruppe das ist. Über Shanghai hängt fett der fast volle Mond, das Wetter scheint morgen gut zu werden. Sehr schön.
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