Leider bin ich immer noch angeschlagen, was mir allerdings die Gelegenheit zu ausgiebigem Fernsehen gibt. Die Stimmung in Deutschland kocht dem Höhepunkt entgegen, nur noch vier Stunden bis zum Anpfiff und langsam füllen sich die Fanmeilen. Sowohl die deutschen als auch die argentinischen Fans sind absolut siegessicher, jeder zweite Deutsche ist der Meinung, dass wir Weltmeister werden. Jedenfalls rechnen wir alle mit einem sehr, sehr heißen Spiel. Natürlich hoffe ich inständig auf einen Sieg unserer Mannschaft, schon allein um den fetten, blau-weiß gestreiften Gummiball namens Diego Maradonna nicht mehr wie verrückt auf der Tribüne herumhüpfen sehen zu müssen.
Nur noch eine knappe halbe Stunde bis zum Anpfiff: Die Straßen leeren sich, alle Leute suchen hektisch die Fanarenen oder Kneipen auf, um mit Gleichgesinnten das Spiel zu schauen. Die Fernbedienung unseres Verstärkers versagt, aber wenigstens funktioniert der Beamer. Es kann losgehen.
Das Spiel:
Zum ersten Mal im Verlauf dieses Turniers trifft Deutschland auf einen wirklich ebenbürtigen und absolut ernst zu nehmenden Gegner, was sich auch sehr schnell offenbart. Zum ersten Mal lassen sich unsere Gegner nicht einfach überrennen, sondern fangen unsere Pässe ab, stören den Spielverlauf, aber unsere Mannschaft kämpft. Wir hocken mit fünf Leuten vor der Leinwand und kauen auf den Fingernägeln. Bis zur Halbzeit eine torlose Begegnung, wir werfen den Grill an und machen Hamburger. Wir wundern uns, das der fette Maradonna bis jetzt noch nicht gezeigt wurde und erfahren, dass er das Stadion unter Protest verlassen hat, da er einen Kumpel nicht mitbringen durfte. Na, wenn das mal kein gutes Zeichen ist: Die Argentinier ihres Maskottchens beraubt, da können wir ja nur noch gewinnen. In der 49. Minute der Schock: Ayala bringt Argentinien in Führung! Da wir unter Berücksichtigung der hohen Temperaturen und unserer nichtrauchenden Freunde nicht in der Wohnung rauchen, muss ich erstmal auf den Balkon rennen, um mit einer Zigarette meine Nerven zu beruhigen. Mann, jetzt kann ich den mexikanischen Trainer La Volpe richtig gut verstehen. Dreißig weitere Minuten lang quälen wir uns und stöhnen bei jedem Ballbesitz der Argentinier und bei jeder Torchance der Deutschen. Ich sehe unsere Chancen auf den Titelgewinn schwinden und beginne, mich mit einem Ausscheiden aus dem Turnier anzufreunden. Trotzdem finde ich Klinsmann und unsere Mannschaft gut, schade nur, dass für uns die Party beendet zu seien scheint.
Nachmittags hatte im Radio eine Wahrsagerin prophezeit, Klose würde in der Verlängerung Deutschland zum Sieg schießen. In der 80. Minute erlöst er uns: Gleichstand! Kurz darauf wird er gegen Neuville ausgewechselt und wir fangen an, die Prophezeiung zu interpretieren: Vielleicht war er derjenige, der die entscheidende Verlängerung erzwang, die uns den Sieg bringen wird, das entscheidende Tor wird er ja wohl nicht mehr machen können? Die Argentinier bleiben weiterhin gefährlich, erzielen jedoch keinen Treffer. Also, Verlängerung. Noch mehr Zigaretten auf dem Balkon. In der ersten Hälfte der Verlängerung dominiert unser Team, in der zweiten die Argentinier, jedoch: Kein Tor. Also, Elfmeterschießen. Eigentlich ganz gut, dass mein Blutdruck vor diesem Spiel im Keller war, sonst hätte ich noch einen Herzinfarkt bekommen. Jedenfalls ist mein Adrenalinspiegel jetzt auf ungeahnten Höhen, ich bin in den vergangenen 120 Minuten bestimmt 10 Jahre gealtert. Morgen werde ich im Spiegel mal nach grauen Haaren Ausschau halten. Ruhe vor dem Sturm. Oliver Kahn geht zu Jens Lehmann und raunt ihm ein paar aufmunternde Worte ins Ohr, wir Mädels weinen fast vor Rührung. So lieben wir Fußball: Im Angesicht der Niederlage werden aus alten Feinden Freunde, alle stehen zusammen. Vielleicht sind das Urinstinkte, vielleicht haben sich damals während der Zeiten der Belagerung durch den Feind in alten Zeiten ähnliche Szenen abgespielt. Neuville tritt als erster an und verwandelt, ebenso Cruz für Argentinien. Ballack schießt das 3:2, Jubel. Alaya schießt, Lehmann hält- wir springen auf und schreien uns die Seele aus dem Leib. Podolski, Rodriguez, Borowski treffen: Jubel, Stöhnen, Jubel. Cambiasso schießt und Lehmann hält: Ganz Deutschland explodiert und wir springen wie die Bekloppten durch die Wohnung: Halbfinale!
Meine Freundin Stefanie und ich sind nach diesem Nervenzerfetzenden Spiel nicht mehr in der Lage, uns auch noch die Partie Italien gegen die Ukraine anzuschauen und widmen uns auf dem Balkon dem Beobachten der Geschehnisse auf der Straße. Und wir werden sofort belohnt, denn im Bildungszentrum gegenüber logiert offensichtlich eine chinesische Delegation, was uns die Gelegenheit zu ausgiebigen Feldstudien bietet. Eine üppig mit schwarz- rot- goldenen Blumenkränzchen behängte reifere chinesische Dame piepst den vorbeiziehenden siegestrunkenen deutschen Fans „Deutschland“ und „Berlin“ zu, was sofort mit entsprechenden Gesängen honoriert wird. Während Italien die Ukraine schließlich 3:0 besiegt, werden wir Zeugen ausgiebiger Verbrüderungsszenen und Photosessions zwischen Deutschen und Chinesen. Eine hübsche, dekorativ in eine Deutschlandfahne gehüllte Einheimische und ihr ebenso attraktiver Freund bereiten den Chinesen unvergessliche Momente und werden sicher das ein oder andere chinesische Photoalbum schmücken, da sie sich geduldig mit allen Mitgliedern der Delegation fotografieren lassen. Ich bin mir sicher, dass ich bei meinem nächsten Aufenthalt in China diese Aufnahmen zu sehen bekommen werde.
Der befürchtete italienische Autokorso fällt dann ins Wasser, vielleicht haben die jetzt schon solche Angst vor uns, dass die sich das nicht mehr trauen. Wir jedenfalls überlegen schon, bei welchem Italiener wir nach dem Spiel am Dienstag anrufen und die große Pizza „Ciao Italia“ bestellen werden.