Donnerstag, Oktober 26, 2006

Kulturschock

26.10.2006, Donnerstag

Lily verteilt Kopien des Gedichtes „Nachtgedanken“ von Li Bai aus der Tang- Dynastie. Ich bin begeistert, denn ich habe viele seiner Gedichte in Deutsch und Englisch übersetzt gelesen und war einfach gespannt, wie die im Original klingen. Was mir Li Bai besonders sympathisch macht, ist die Tatsache, dass er gerne mal gesoffen und dann in diesem Zustand wunderschöne Gedichte verfasst hat, manche handeln auch von den leider unschönen Folgen des Saufens. Der Überlieferung nach soll er ertrunken sein, als er in berauschtem Zustand versucht hat, das Spiegelbild des Mondes auf einem Fluss zu umarmen. Na, wenn das mal kein schöner Tod für einen Dichter ist. Den kulturell ambitionierteren unter euch sei Gustav Mahlers Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ ans Herz gelegt, in der er einige dieser von Heinz Bethge sehr frei übersetzten Gedichte vertont hat. Da ich das Gedicht schon kannte, habe ich mit dem Begreifen des Sinns keine Schwierigkeiten, Lily lässt uns das jedoch ca. zehnmal laut vorlesen, damit wir uns am Klang der Worte berauschen können. Li Bai dürfte immer noch in seinem Grab rotieren. Wir finden zwar das Gedicht als solches und den Umgang mit der Sprache ganz toll, können es aber anscheinend nicht voll würdigen. Das ist mir aber herzlich egal, denn ich bin stolz, ein Gedicht, dass vor über tausend Jahren geschrieben wurde, endlich mal im Original gelesen und auch verstanden zu haben. Für mich war das eigentlich fast ein Schlüsselerlebniss: Mit Bediensteten rumkreischen oder feilschen kann nach ein paar Chinesischstunden jeder Depp, aber eine Übersetzung nach dem Original beurteilen ist schon was anderes, wenn man nicht gerade Sinologie studiert.

Anschließend lässt sie uns einen Test machen, in dem wir alle mehr oder weniger gleich gut (oder mies) abschneiden, dann dürfen wir noch auf chinesisch über unsere Reise nach Putuo Shan berichten. Leider hat das bei uns das Niveau des Berichtes eines Erstklässlers über seine Sommerferien (Ich war bei Oma auf dem Bauernhof. Dort war es toll. Wir haben viele interessante Dinge gesehen…. usw.), da ich nicht weiss, was „skurril“ und „abrippen“ auf chinesisch heisst, beschränke ich mich auch nur auf die Schilderung der Schönheit der Tempel und dergleichen. Lily erzählt uns, dass sie dort zum ersten Mal in ihrem Leben einen Strand gesehen hat. Meine Güte, was sind wir verwöhnt. Dann erklärt sie uns noch die romantischen Gepflogenheiten chinesischer Mädchen ihrer Generation. Sie würde einen Typen nie wissen lassen, dass sie ihn gut findet und fragt dann ausgerechnet mich, was ich denn tun würde. Mangels Kenntnis der chinesischen Vokabeln für „anbrummen“, „flirten“ und „ins Bett zerren“ führe ich das (bis auf den letzten Teil natürlich) pantomimisch vor, was bei Lily Lachkrämpfe auslöst. Ich verschweige lieber diskret, wie ich Ali kennengelernt habe.

Wu Ji hat leider keine Zeit für Stefanie, weswegen sie mich zum Training mit Wu Mao Gui begleitet. Mittlerweile gibt es in Shanghai mehrere neue Metro-Linien und Stationen. Gestern waren wir irgendwie zu weit gefahren und mussten ein Taxi zum Haupteingang des Parks nehmen. Nach dem Training haben wir den Park am anderen Ende über den noch einzig offenen Nebeneingang verlassen. Unser Meister stoppte ein Taxi und erklärte dem Fahrer, er solle uns hier in die Hongqiao Lu bringen, wir jedoch erklärten, das sei nicht nötig, wir wollten nur zur nächsten Metro-Station. Darauf folgte eine ca. zwanzigminütige, erbitterte, im Shanghaier Dialekt geführte Diskussion, der sich auch natürlich sofort mehrere Passanten anschlossen. An einem Punkt dachte ich wirklich, wir würden gleich in eine Schlägerei verwickelt werden, aber die Dame wollte uns nur sagen, dass die nächste Station zu Fuß etwa zehn Minuten entfernt sei. Das Ende vom Lied: Wir wurden in ein Taxi verfrachtet, dem der Meister noch ein paar Instruktionen hinterherbrüllte. Tatsächlich war die Haltestelle nicht weit weg vom Park. Jedenfalls zückte Stefanie im Verlauf der Diskussion ihren geliebten, mittlerweile ziemlich zerfledderten chinesischen Stadtplan, um sich den Weg erklären zu lassen. Das brachte ihr ungläubige , wenn nicht mitleidige Blicke ein.

Heute laufen wir und finden den Weg anstandslos. Im Hongkou- Distrikt lebt unter Wolkenkratzern noch das alte Shanghai, Leute kochen auf der Strasse, zocken, entspannen sich, an jedem zweiten Haus klebt das Zeichen für „Waschen“. Ob das bedeutet, dass es dort Badezimmer gibt oder ob man dort seine Wäsche oder sich selbst waschen lassen kann, wissen wir nicht und wollen es auch nicht probieren. Als wir im Park aufschlagen, zerrt Wu Mao Gui als erstes einen englischsprachigen Stadtplan aus seiner Tasche, der deutliche Gebrauchsspuren aufweist. Dieses Ding kriegt man in jedem besseren Hotel hier und wir sind, was Stadtpläne angeht, wesentlich besser ausgestatett, ich bin jedoch gerührt, dass er offensichtlich derartig um unser Wohlergehen besorgt ist. Wir wollen garnicht wissen, wie er an das Ding gekommen ist., vielleicht hat er es irgendeinem Touristen abgenommen. Beim Training konzentriert er sich dann auch darauf, uns wenige Sachen richtig beizubringen. Wir fragen ihm Löcher in den Bauch, warum bei dieser Bewegung diese Hand soundso und die andere das und das macht und bitten ihn, das unendlich oft mit ihm zu üben. Überraschenderweise freut er sich über unsere Fragerei, für ihn heißt das, dass wir wirklich mit dem Herzen dabei sind und verstehen wollen, was wir da machen.

Da dies mein letzter Abend in diesem Loch hier und morgen unsere letzte gemeinsame Unterrichtstunde ist, hat Alessandra beschlossen, was Nettes für uns aufzutischen. Sie ist bei Carrefour Amok gelaufen, so erwartet uns nach dem Training ein Buffet, das auch in Europa seinesgleichen suchen müsste. Was für Leckereien! Verschiedene Käse, Bruschcetta mit echtem Olivenöl, köstliche Tomaten mit viel Knoblauch, grandioser Wein, exotische Süßspeisen, Früchte und das alles liebevoll angerichtet! Freunde, wenn ihr in der Fremde weilt, dann sucht die Bekanntschaft zu Italienern! Wir verbringen einen wundervollen Abend und stellen fest, dass wir mittlerweile deratig assimiliert sind, das wir unsere Konversationen jetzt auch mit mindestens 120 db führen.

So, da ich morgen in ein hübsches Hotel umziehe und Stefanies Laptop mir dann nicht mehr zur Verfügung stehen wird, müsst ihr euch leider bis zu unserer Heimkehr am 05.11. gedulden, um den Rest unserer Erlebnisse zu lesen. Jedenfalls danke ich allen, die Kommentare und Mails geschrieben haben, denn so wusste ich, das dies alles hier nicht völlig sinnlos war. Bis bald in Deutschland, Zai jian .

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

heda, wie heißt der blog mit den tatoos & so?
hanzismatters oder hansismutter oder doch mit bindestrich? ich dachte du hättest den verlinkt! Und über Mainz 05 würd ich auch gern mal wieder aus berufenem munde kommentare lesen. aus berufenem munde lesen? mensch charlie