Freitag, Oktober 10, 2008

Scheiss- Tag

10.10.2008, Freitag

Vormittags:

Als ich aufstehe, ahne ich, dass das heute irgendwie kein guter Tag wird. Das Wetter ist total diesig und tatsächlich sieht es nach Regen aus. Strammer Marsch zum Park, der Meister kommt eine halbe Stunde später (das hatte er gestern schon angekündigt) und kann auch nicht so lange, weil er ja noch die anderen Ausländer im Renmin Gongyuan trainieren muss. Ich habe wahnsinnig schlecht geschlafen und bin hundemüde, das Training läuft aber überraschend gut. Oskar ist nicht da, das finde ich eigentlich ganz gut. Nicht, dass ich ihn nicht nett fände oder was gegen ihn hätte (tut mir leid, wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte), aber seine ständigen Belehrungen können einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen und vom Wesentlichen ablenken. Nachdem der Meister weg ist, üben Herr Si und ich unter der Anleitung von Xiao Lu weiter: Xiao Lu sagt, heute Mittag müsse das Training mal ausfallen, weil er auch total müde sei und dringend mal schlafen müsse. Ob das OK sei? Um Gottes Willen, selbstverständlich! Ich habe ja schon ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich den armen Kerl derartig in Beschlag genommen habe. Ursprünglich hatte ich beim Meister mal ganz vorsichtig nach zwei bis drei Nachmittagen Nachhilfe die Woche angefragt, dass Xiao Lu sich soviel Zeit nehmen würde, hätte ich nie erwartet. Nach dieser Ansage bin ich vor Scham dermaßen durch den Wind, dass ich mich kaum noch konzentrieren kann. Und dann werden die bösen Lines gelaufen, vor Verwirrung vermassele ich die mit der Drehung natürlich total. Ich bin derartig wütend auf mich selber, dass ich einen Stein quer durch den Park kicke und mir Zornestränen in die Augen steigen. Aber naseschniefend fange ich so lange von vorne an, bis es klappt. Herr Si steckt mir erst mal ne Kippe in den Mund und Xiao Lu ist etwas betroffen, er denkt anscheinend, ich wäre sauer, weil er mich so hart rannimmt und das Nachmittagstraining ausfällt. Wortreich erklärt er mir erst mal genau, was er täglich nach dem Abendessen drei Stunden lang sonst noch so übt (seine Frau findet das wohl gar nicht klasse) und entschuldigt sich erneuet dafür, dass das Training ausfällt. Ich habe das Gefühl, in Tränen ausbrechen zu müssen, wenn ich nur noch ein Wort sagen muss, quetsche aber noch hervor, ich sei keinesfalls wütend auf ihn, sondern auf mich selber. Naja, nächste Woche kommt ja Stefanie, ich werde ihm dann einfach sagen, die wolle nachmittags mit mir um die Häuser ziehen und deswegen könne ich nicht trainieren, dann kann er schlafen. Um mich zu besänftigen, lässt er mich nochmal meine Paradedisziplin laufen und lobt mich über den grünen Klee. Xiao Lu sagt, er sei früher auch immer wütend geworden, wenn was beim Üben nicht geklappt habe, Steine rumkicken sei nicht gut und ich werde mit der Ermahnung, mich gefälligst aufs Ohr zu legen und einen Nachmittag mal nicht an Tong Bei zu denken, nach Hause geschickt.
Im Gästehaus öffnet sich meine Zimmertür nicht, also 14 Stockwerke wieder runter an die Rezeption, wo das in Ordnung gebracht wird. Kaum bin ich im Zimmer, rufen die an und erklären mir umständlich, dass ich meinen Deposit für die nächste Woche entrichten müsste. Also wieder runter, Kreditkarte gezückt und gut ist. Ich
wasche meine Trainingsfummel, die dreckige Luft hier hat dem Begriff „Kragenschmutz“ völlig neue Dimensionen verliehen. Nach lokalem Brauch wird das nasse Zeug ans Fenster zum Trocknen gehängt, von außen sieht das SISU sowieso aus wie ein Feldlager, weil alle das so machen. Nahrhafter Mittagssnack in Form von Kartoffelchips, Kerstin ruft an und wird wegen der Deposit- Nummer gewarnt. Wenigstens gehen wir heute Abend auf die Piste, ein kleiner Lichtblick.

Nachmittags/ Abends:

Nachdem ich mich schlaflos im Bett rumgewälzt habe, schmeiße ich mich in einigermaßen ansehnlichen Fummel (zum Schminken bin ich zu faul) und fahre mit Kerstin in die Stadt, um endlich mal einen draufzumachen. Ah, was für eine Labsal, endlich mal einen Minirock sta
tt blauer Pumphosen zu tragen! Wir laufen pünktlich zur Happy Hour bei unserer Lieblingstränke Barbarossa ein und drei Long Island Ice Teas später unter den in allen Farben schillernden Wolkenkratzern sieht die Welt schon ganz anders aus. Netter Weiberabend, die arme Kerstin hat sich leider einen fürchterlichen Schnupfen eingefangen. Wir verabreden, morgen Abend in einem vegetarischen Restaurant zu speisen, das ich noch nicht kenne. Da kann man denn auch seinen Vorrat an vegetarischen Instant- Nudelsuppen, neben Crepes und Fladen meine Hauptnahrungsquelle, auffüllen, bestens. Beschwingt beschließen wir, uns zum Gästehaus zurück ein Taxi zu gönnen und landen bei einer absoluten Laberbacke, der die Gelegenheit, Ausländerinnen zu kutschieren zu einer Englischstunde nutzt. Da ich neben dem Fahrer sitze, muss ich die Konversation bestreiten. Unter mäßigem Alkoholeinfluss ist mein Chinesisch deutlich besser, jedenfalls bilde ich mir das ein. Der Fahrer ist ganz begeistert, ein williges Opfer gefunden zu haben, schließlich verklickere ich dem leicht entnervt, wir seien Deutsche und könnten eigentlich gar kein Englisch. Da habe ich in ein Hornissennest gestochen, denn jetzt muss ich mir anhören, wie schwer zu erlernen Deutsch sei, wie schlau unsere Technologie (Transrapid) und wie geil unsere Autos. Wir sitzen in einem VW Santana, für den Fahrer ist BMW offensichtlich das Größte. Ich punkte, indem ich weiß, was BMW auf chinesisch heißt. (Bao Ma, kostbares Pferd). Da der Knabe offensichtlich nur grob weiß, wo er hinsoll, befehle ich ihm irgendwann mal, anzuhalten und uns rauszulassen. Kerstin und ich irren leicht desorientiert kurz durch die Gegend, bis wir genau vor dem Stadion stehen, jetzt ist alles klar. Abklappern der Klamottenläden auf dem Weg zum Gästehaus, heißhungrig fallen wir noch in den Shop ein und versorgen uns mit Fressalien. Xiao Lu hat mir auf MSN eine Nachricht hinterlassen, er hätte nicht gewusst, wie er mich heute morgen hätte trösten sollen und deswegen sehr bekümmert sei, ich erkläre ihm, dass ich wegen meiner unzureichenden Trainingsleistung erbost war, sehr beschämt darüber sei, so viel seiner Freizeit zu beanspruchen und schlage ihm vor, nächste Woche das Nachmittagstraining ausfallen zu lassen.
Chat mit meiner Amazonenkollegin Lilo, die mittlerweile wieder im trüben Deutschland angekommen und entsprechend gelaunt ist.
Meinen frisch gewaschenen Trainingsfummel werde ich morgen wohl noch etwas mit dem guten alten Föhn bearbeiten müssen, um angemessen bekleidet auflaufen zu können.
Die Welt ist wieder in Ordnung.
Merke: Vermeide in Shanghai die roten Taxis, besser die grünen oder blauen benutzen, die haben den Durchblick.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

lieber ein "Scheiss-Tag" im gelobten Land als ein mittelmäßiger im herbst-knatschigen DE!