Mittwoch, Oktober 22, 2008

Wir können auch anders

22.10.08, Mittwoch

Vormittags:

Bin saumüde und hatte heimlich auf einen Regentag gehofft, um ausschlafen zu können, aber die Sonne scheint durch den Nebel und es ist schwül. Da die Luftfeuchte relativ hoch ist und es gestern geregnet hat, hüpfen überall im Park Kröten rum, man muss aufpassen, nicht auf eine draufzutreten.
Neben uns beiden sind noch Oskar und der merkwürdige Australier da, außerdem Herr Si und der nette Junge von gestern. Netterweise hat Oskar wieder seine Festplatte mitgebracht und diesmal
klappt das auch mit der Übertragung. Er ist ja schon ein netter Kerl, manchmal erzählt er halt etwas viel.
Da Meister Wu ein begeisterter Anhänger der Nachwuchsförderung ist, werden bei den Einzelbewegungen auch ordentlich Anwendungen geübt. Meist trifft es den Buben, der leise wimmert, wenn der Meister ihm den Arm verdreht. Wir lernen die Taiji- Bewegung „Hände im Wolkenfluss“ in einem völlig neuen Licht zu sehen, unglaublich, was für fiese Dinge man damit anstellen kann. Zu jeder Anwendung gibt es natürlich auch eine Geschichte, wer zu welcher Gelegenheit damit schachmatt gesetzt wurde, ich liebe das und könnte stundenlang zuhören. In Deutschland sollten Anwendungen einfach mehr geübt und vermittelt werden, sonst ist das nur dummes Armgewedel. Der Australier ist ziemlich schlecht, aber gut, wir haben ja alle mal klein angefangen. Allerdings sprüht er vor Selbstbewusstsein und nimmt sich die Korrekturen des Meisters nicht wirklich zu Herzen, im Gegenteil, er versucht noch Stefanie und mich zu verbessern. Bei Oskar lasse ich mir das ja noch gefallen, denn der weiß wenigstens, wovon er redet, auch wenn es in der Ausführung manchmal hapert. Angeberisch macht der Australier die „stehende Säule“ und wird vom Meister erst mal abgekanzelt, wir alle müssen uns so hinstellen. Meister Wu zeigt auf Stefanie und mich und sagt „hen hao“ (sehr gut). Geht runter wie Öl. (Danke an unsere Lehrerin Heike, die uns das beigebracht hat!). Alle dürfen mal an uns rumdrücken, um unsere tolle Struktur zu spüren, dann an dem Australier als Negativbeispiel. Das bekümmert den allerdings nicht wirklich.
Stefanie fährt weiter nach Pudong, um Wujie zu treffen, ich begebe mich zurück ins Gästehaus. Ich hatte kurz in Erwägung gezogen, mit Alessandra in das Galerieviertel zu fahren, entscheide mich aber dagegen und mache lieber ein Schönheitsschläfchen, um für heute abend fit zu sein. Ich hatte Xiao Lu gestern ganz angeberisch verkündet, ich sei so froh, mich endlich mal hübsch machen zu können, da muss ich jetzt auch was bringen.

Nachmittags/ Abends:

(Um etwaige Kommentare vorwegzunehmen: Nein, die Perücken waren nicht
am Start).
Paradefummel aus dem Schrank gezerrt, geduscht, Juwelen angelegt, Haare bearbeitet und dezent geschminkt: Ab geht es zur Hauptverkehrszeit mit der U- Bahn quer durch Shanghai, was das Gesamtergebnis natürlich etwas ruiniert. Immerhin Meister Wu und Xiao Lu haben uns in strahlender Schönheit und taufrisch erlebt. (Xiao Lu raunt mir auf dem Weg zur U- Bahn "piaoliang" zu, Charmeur). Auf Wujie müssen wir im Restaurant ein wenig warten, da er gleich nach der Arbeit kommt. Meister Wu verteilt zur Überbrückung der Wartezeit Mandarinen an alle und holt aus den Tiefen seines Rucksacks alle Kippen, die er hat, ich werfe meine auch in die Runde. Als Wujie eintrifft, grinsen wir beide uns an und umarmen uns innig. Vor Enthusiasmus haue ich ihm auf den Rücken, was mit einem „lihai“ kommentiert wird. (Eine meiner Lieblings- Universalvokabeln, kann sowohl „schrecklich, heftig“ als auch „abgefahren“ bedeuten). Als die Jungs Essen bestellen, ahnen wir, dass die uns einladen wollen, ordentlich was zu saufen gibt es auch. Stefanie wird wegen ihres Chinesisch und ihres Gongfu getadelt, jedes Jahr das selbe Programm. Wujie ist immer noch frech wie eh und je, wir hauen ordentlich rein, saufen und mit steigendem Alkoholpegel kann ich sogar Shanghainese verstehen. Liebe Erinnerungen an unser erstes gemeinsames Essen am 03. Oktober 2005 werden aufgefrischt, Meister Wu erinnert sich voller Rührung an Yürgen, Lilo und Elli, auch an deren Schwester, die ihm damals durch die Kontrollen am Frankfurter Flughafen geholfen hat. In Mainz hat es ihm immer sehr gut gefallen und er würde gerne wiederkommen, hoffentlich klappt das nächstes Jahr. Da Meister Wu sich mit brennender Kippe in der einen und dem Schnapsglas in der anderen Hand einen gesamten Schweinefuß in die Kauleiste fingert, anschließend die Kippe auf dem sauber ausgelutschten Knochen ausdrückt und einige Kämpfe demonstriert, gehe ich davon aus, dass er sich wohlfühlt. Wujie droht mir, mich nächstes Jahr einer Freundin vorzustellen, die Schnaps saufen könne wie ein Kerl. Lieber nicht, mit chinesischem Schnaps haben wir so unsere Erfahrungen. Stefanie tut so, als müsste sie auf sie Toilette und begleicht heimlich die Rechnung, wir freuen uns diebisch, die Jungs ausgetrickst zu haben.

Saulustiger Abend, herzliche Verabschiedung von Wujie, wir kriegen gerade noch die letzte U- Bahn, Meister Wu unterhält das gesamte Abteil. Als die Bahn voller wird, bin ich der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, kann aber ganz gut folgen. Die Jungs liefern uns am Gästehaus ab, wir tun so, als gingen wir brav ins Bett, nehnehmen jedoch noch einen Absacker in der Studentenkneipe und lassen den Abend Revue passieren.

1 Kommentar:

Xiaomo hat gesagt…

Ach, wäre das nett, den alten Haudegen mal wieder bei uns im goldisch Meenz begrüßen zu dürfen...