Nach quälenden 10,5 Stunden Flug werden wir beim Landeanflug auf Shanghai mit einem der grandiosesten Anblicke auf diese Stadt belohnt, den ich je hatte. Aus der Morgendämmerung tauchen langsam die Wolkenkratzer auf und funkeln in der aufgehenden Sonne, von Dunst teilweise verhüllt. Mir steigen Tränen in die Augen, leider werden die Fotos nichts. Die Abfertigung geht dann auch überraschend schnell, Kerstin und ich gönnen uns wegen der doch nicht ganz leichten und etwas unhandlichen Gepäckstücke ein Taxi in das Hotel. Auf dem Weg dorthin fahren wir am Heping- Park vorbei und mein Herz schlägt schneller. Während Kerstin sich erst mal aufs Ohr legt, reiße ich mir meine Klamotten vom Leib, mache mich frisch und zerre aus dem Koffer meinen schicksten Fummel. Da unsere Meister uns ja eigentlich sonst nur in Trainingsklamotten oder mehr oder weniger frischen pragmatischen Gewandungen kennen, will ich wenigstens dieses eine Mal beweisen, dass wir auch anders können. Nachdem ich meine Geschenke in die Tasche gestopft habe, mache ich mich auf den Weg zur neuen U- Bahn und finde die auch recht zügig. Als ich am Heping- Park aussteige, zittern meine Knie. Durch den Zaun erhasche ich einen Blick auf eine Gestalt, die sich gerade dehnt, aber dummerweise muss ich fast um den halben Park laufen, um hineinzukommen. Da wegen der Nationaltagsfeierlichkeiten alle noch bis Montag frei haben, brennt im Park natürlich die Luft. Nachdem ich mich durch eine Horde Luftballonverkäufer gekämpft habe, stehe ich endlich dümmlich grinsend vor meinem großen Bruder, der offensichtlich kurz vorher mir zu Ehren einen Friseur besucht hat und auch sonst sehr adrett aussieht und kann nur ein dämliches „Ich bin da, wie geht’s?“ stammeln. Xiao Lu ist alleine, der Meister unterrichtet heute eine Gruppe Ausländer im Renmin Gongyuan. Umso besser, dann können wir beide wenigstens ungestört quatschen. Naja, von den geschätzen 3.000 anderen Leuten mal abgesehen. Dumm nur, dass ich die Schnapsflasche für den Meister jetzt wieder mit zurückschleppen muss. Ich händige Xiao Lu mein Geschenk aus, dass er natürlich höflicherweise nicht auspackt. Aber er hat ja auch was für mich: Nämlich einen seiner Trainingsfummel, damit wir auch hübsch einheitlich aussehen. So was Liebes! Die Ärmel der Jacke sind mir leider etwas zu lang, (kann man ja aufrollen), aber die Hose sollte passen. Ich verzichte darauf, die in aller Öffentlichkeit anzuprobieren, aber das wird schon gehen. (Unglücklicherweise sind die Hosen dunkelblau, meine Trainingsschuhe aber khakigrün, also werde ich mal wieder als optischer Supergau unterwegs sein. Aber auch daran hat Xiao Lu schon gedacht: Ich werde mir weiße Leinenschuhe besorgen müssen, da wird er mir bei helfen. Schließlich soll das Gesamtbild stimmen.) Fürsorglich breitet er eine Plastiktüte auf den Steinen aus, damit ich ihm beim Üben zuschauen kann und zwischendrin erzähle ich ihm, was ich alles geübt habe und was ich wieder vergessen habe, während die Mücken sich an meinen Beinen laben. Außerdem quatschen wir über viele andere Dinge, die beim Chatten wegen abstürzender Rechner, langsamer Verbindungen etc. irgendwie zu kurz gekommen sind, wie zum Beispiel über die anderen deutschen Schüler des Meisters, die Wohnungs- und Arbeitsmarksituation in unseren jeweiligen Ländern (er skizziert den Grundriss seiner Wohnung mit einem Stöckchen auf die Erde um zu demonstrieren, wie klein die ist, ich bin zu beschämt, um meine aufzuzeichnen), seine Tochter und dergleichen mehr. Soll noch mal einer sagen, unser Lehrbuch sei realitätsfern, das kam alles schon vor, nur in einem vergleichsweise langweiligen Zusammenhang. Heute ist für mich ein sehr wichtiges Datum: Vor drei Jahren waren wir mit dem Verein in China, exakt am 3. Oktober 2005 habe ich Meister Wu und ihn anlässlich eines Kennenlern- Festschmauses das erste Mal gesehen. Ein Jubiläum, sozusagen. Dank Elli gibt es Videodokumentationen davon. Das reibe ich ihm auch noch unter die Nase und er ist beeindruckt. Außerdem gelingt es mir, ein wenig Licht in seine Vergangenheit zu bringen: Ich wusste, dass er mal in Korea gearbeitet hat und auch vor Tongbei schon was anderes studiert hat. Er hat mir mal erzählt, dass das in Korea dann zu brenzlig wurde, weil es öfter zu Handgreiflichkeiten kam, ist aber nicht ins Detail gegangen. Jetzt kriege ich raus, dass er damals Shaolin Praying Mantis geübt hat und einer seiner koreanischen Kollegen vor ihm mit Taekwondo angegeben hat. (Kampfkünstler kann man mit ungerechtfertigtem Geprahle sehr leicht provozieren, das kenne ich ja schon. Eitle Gockel.) Daraufhin hat er dem Koreaner wohl ordentlich was aufs freche Maul gegeben, Nasenbluten, Bullen, Handschellen, Schmerzensgeld. (Das Handgemenge wird mir auch gleich anschaulich demonstriert.) Mein schweigsamer großer Bruder?! Für mich jetzt der absolute Held. Und dann kommt auch gleich die Aufforderung zum Push- Hands, meine absolute Lieblingsdisziplin. Ich versuche mich erst mal mit einem „Ach, ich bin doch soooo müde!“ aus der Affäre zu ziehen, mache dann aber doch mit, schließlich will ich keine Chance verpassen, von echt guten Leuten was zu lernen. Anscheinend stelle ich mich dann doch nicht ganz so dämlich an und ich habe wahnsinnigen Spaß an der Sache. Jetzt merke ich erst mal so richtig, was mir die vergangenen 10 Monate so gefehlt hat. Natürlich fliege ich mal wieder durch den halben Park, dafür gibt es dann Haue, aber das findet er natürlich witzig. Klar, ich habe ja auch nicht gerade den Hammer- Schlag drauf. Anschließend lädt mich Xiao Lu auch noch zum Essen ein und wir quatschen weiter. Es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Und irgendwie produziert mein Jet Lag- umnebeltes Hirn sogar Sätze, die er versteht beziehungsweise verarbeitet die eingehenden Information so, dass wir uns tatsächlich unterhalten können. Dankenswerterweise hat er sich in der Zwischenzeit auch ein paar englische Phrasen draufgeschaufelt, das erleichtert mir die Sache. Mein Chinesisch wird gelobt (Chinesen sind halt höfliche Menschen), aber tatsächlich habe ich das Gefühl, durch unsere Chats enorm profitiert zu haben. Also dann, morgen Training. Eigentlich wollte ich es ja ruhig angehen lassen, aber jetzt bin ich heiß.
Kerstin wird aus dem Bett geschmissen und ich versuche, an der Rezeption ein Kabel für meinen Laptop zu kriegen, damit ich ans Netz kann. Geht nicht, erst morgen wieder. Mist. Wir bummeln durch die Gegend, versorgen uns mit Grundnahrungsmitteln und beflügelt von dem erfolgreichen Gequatsche heute morgen betrete ich kühn den Handyladen, in dem ich letztes Jahr meine Karte gekauft hatte, wedele mit dem von unserem Chinesischlehrer Yabo freundlicherweise niedergeschriebenen Begriff für „Karte aufladen“ vor der Nase der kettenrauchenden Chefin rum und verstehe sogar, dass sie mich nach dem Betrag fragt. Vorsichtshalber bitte ich um Prüfung, ob denn die Nummer noch gültig sei, sie ist es. Kerstins Karten lassen wir dann auch noch gleich testen, aber sie sind ein Fall für die Mülltonne. Also wird eine neue gekauft und beladen. Die Chefin und ihr Bediensteter finden es cool, dass ich den Heiligen Stephen Chow als Hintergrundbild auf meinem Handy habe, ich komme auch gleich ganz lässig mit dem korrekten Namen rüber. Höflicher Smalltalk und erneutes Lob meiner Sprachkenntnisse, das ich bescheiden von mir weise. Gefühlte 20 cm größer verlasse ich den Laden. Abends fahren wir mit dem Bus in die Stadt, um mal Kerstins Weg zur Sprachschule auszutesten und uns mit einem ihrer chinesischen Kumpels und dessen Freundin zum Abendessen zu treffen. (Wiedertreffen mit chinesischen Freunden ist immer unweigerlich mit der Einladung zu einem opulenten Schmaus verbunden. Wirklich sympathisches Volk, die Chinesen.)
Witzigerweise habe ich hier exakt das selbe Zimmer wie letztes Jahr, liebe Erinnerungen kommen auf und jetzt genieße ich den Ausblick auf die funkelnde Stadt. Mir kommt es vor, als habe ich die vergangenen 10 Monate in Deutschland in einem Wachkoma verbracht, hier ist alles so vertraut, hier bewege ich mich mit schlafwandlerischer Sicherheit. Willkommen zu Hause.
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