Mittwoch, Oktober 29, 2008

So viel zu lernen, so wenig Zeit!

29.10.08, Mittwoch

Vormittags:

Habe schlecht geschlafen, da mir die ganze Nacht die Nase lief. Allerdings war ich hier auch schon schlimmer erkältet, habe also Glück. Nur noch drei Tage, dann wieder Wachkoma. Trübes Wetter, wenigstens regnet es nicht. Voller Ausländerauflauf im Park, außer dem Australier und Rose sind alle da. Ein junger Mann betritt das Trainingsgelände und fragt den Meister, ob er der Tongbei Wu sei? Anscheinend will er bei ihm lernen, der Meister führt ein lockeres Vorstellungsgespräch mit dem jungen Mann, der sich den Unterricht dann auch anschaut. Keine besonderen Vorkommnisse, ich gönne mir einen Fladen zum Mittagessen. Als ich nach Hause komme, ist mein Zimmer noch nicht aufgeräumt, ärgerlich. Ich tigere zur Apotheke, um mir was gegen meine Erkältung zu besorgen, habe sowieso nichts besseres vor. Und ich besorge auch gleich noch eine Stange von des Meisters Lieblingskippen als Gastgeschenk, bei lokalen Alkoholika kenne ich mich nicht so aus und möchte keinen Fehlgriff tun. Xiao Lu war heute morgen nicht im Training, (er hat verpennt, mir aber eine Nachricht hinterlassen, dass wir uns mittags treffen können. Gut so.)

Nachmittags:

Als ich das Gästehaus verlasse, wird der Regen stärker. Wir treffen uns im Park und entscheiden uns dazu, Push Hands zu üben, da müssen wir uns nicht groß umziehen. Es regnet immer heftiger, wir kuscheln uns unter dem Schirm zusammen und machen trotzdem mit Tui Shou weiter, geht ja auch so. Als der Regen zu stark wird, lädt Xiao Lu mich in die gegenüberliegende Pizzeria ein, auf dem Weg dahin achtet er sorgfältig darauf, dass ich nicht in irgendwelche Pfützen trete, den Schirm hält natürlich er. Mädels, wenn ihr einen Mann sucht, der euch auf Händen trägt- lacht euch einen Shanghaier an! Die Pizza und der Capuccino sind überraschend gut, Stefanie und ich waren hier letztes Jahr schon essen und waren eher mäßig begeistert.
Wir reden über unsere Vorlieben und entdecken sehr viele Gemeinsamkeiten (außer zum Thema Musik). Im Hintergrund singt Mariah Carey Weihnachtslieder, bizarr. Irgendwann kommen wir natürlich wieder zu den Kampfkünsten, ich weiß ja, dass Xiao Lu schon mit sechs Jahren angefangen hat und frage ihn, ob seine acht Brüder auch alle Wu Shu geübt hätten? Klar, es stellt sich heraus, dass die Familie Lu eine lange Tradition in dieser Richtung hat. (Ich gebe jetzt mal nur das wesentliche wieder). Schon immer wurden in dieser Familie die Kampfkünste gepflegt. Xiao Lus Vater war selber ein großer Shaolin - Meister , übte auch Tongbei und war mit Meister Wus Lehrer eng befreundet. Da aber sein Vater sehr früh starb und ihn selber nicht mehr unterrichten konnte und Meister Wus Lehrer zu dieser Zeit keine Schüler mehr annahm, beschloss Xiao Lus Mutter, ihn dann in Shaolin Gongfu ausbilden zu lassen, um die Tradition zu wahren, später ist er denn bei Meister Wu gelandet. (Xiao Lu benutzt die deutschen Begriffe für „Vater“ und „Mutter“, mir fällt die Kinnlade runter). In alten Zeiten waren sehr viele Lus Minister oder Generäle, er schreibt mir die Namen auf chinesisch auf und sagt, ich solle die mal auf Baidu (chinesische Konkurrenz zu Google, sehr gut) suchen. Während ich völlig gefesselt seinen Erzählungen lausche, habe ich eine Vision von waffenschwingenden, langmähnigen Versionen von Xiao Lu in voller Kampfmontur, die sich todesmutig in die Schlacht stürzen. Ich selber kann in meiner Ahnenreihe keine derartig coolen Vorfahren aufweisen, einer war ein General und ist achtzehnhundertirgendwas in einer historisch unbedeutenden Schlacht gefallen. Generationen von Kampfkünstlern, wie grandios! Schon als Kind habe ich das geliebt und Kung Fu Filme gemeinsam mit meinem Vater angeschaut, der meine Affinität für dieses Land entscheidend geprägt hat. Das versuche ich ihm zu vermitteln, ich glaube, er versteht.
Für diese Gelegenheit zum Quatschen bin ich unendlich dankbar, endlich kann man sich mal über so viele Dinge austauschen, die in den vergangenen 10 Monaten beim Chat viel zu kurz kamen. Wir vereinbaren, uns morgen trotzdem zu treffen, Regen hin oder her.
Im Gästehaus angekommen habe ich natürlich nichts eiligeres zu tun, als im Netz zu recherchieren. Da ich chinesische Schreibschrift nicht wirklich gut lesen kann, schaffe ich es nur, den Namen Lu Xiu Fu zu entziffern und finde heraus, dass der lieber mit dem letzten Kaiser der Song Dynastie (960- 1279 n. Chr.) in den Tod gegangen ist, als sich dem Feind zu ergeben. Am Meeresufer in die Enge getrieben von den mongolischen Horden, sprach Lu Xiu Fu „Wir, der Kaiser und der Minister, werden von den Ausländern nicht gedemütigt werden“ und ging mit dem jungen Kaiser auf dem Rücken ins Meer, wo beide ertranken. Held.

Abends:

Obwohl es immer noch regnet, fahren Kerstin, Alessandra und ich in die Taikang Lu in der French Concession, da war ich noch nicht. Ein absolut lässiger Ort, sogar bei Regen, altes Shanghai mit jeder Menge kleinen, witzigen Geschäften, Galerien und Kneipen. Da es regnet, ist nicht viel los, aber trotzdem sehr hübsch. Intensive Hand- Augen Koordinationsübungen, Kerstin und ich erwerben gleich im ersten Laden ein paar sehr coole Anstecker und Postkarten. Ich finde noch ein Geschäft mit sehr witzigen T- Shirts und kaufe eines, außerdem eine sehr große Tasche mit lustiger Verballhornung sozialistischer Propaganda. Handgenäht, solide und von chinesischen Designern, das muss man unterstützen. Klasse, die wird mir in Zukunft zum Transport meiner Trainingsfummel oder Lernunterlagen dienen. Wahrscheinlich werde ich die auf dem Rückflug schon einsetzen müssen. Angesichts solcher Orte kann ich überhaupt nicht verstehen, warum alle Ausländer so wild auf gefälschte Produkte sind. Leute, was wollt ihr denn mit diesem hässlichen D&G und was weiß ich Zeug, wenn es hier doch soviel abgefahrene Sachen gibt! Ich würde das noch nicht mal kaufen, wenn ich mir die Originale leisten könnte.
Wir finden eine nette Kneipe in einem der alten Häuser, die Cocktails schmecken zwar Scheiße (als Batgirl trinke ich natürlich den „Dark Knight“), aber es gibt massig Erdnüsse, es ist saugemütlich und wir unterhalten uns prächtig. Mir schwirrt langsam der Kopf vom ständigen Umschalten von einer Sprache zur anderen.

1 Kommentar:

Xiaomo hat gesagt…

Lieber ein lebender Feigling als ein toter Held!